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10 Jahre Hamburger Privattheatertage!

Zehn Jahre! Als Axel Schneider, Hamburgs Fünf-Bühnen-Impresario und als solcher Herr über die dortigen Kammerspiele, das Altonaer Theater, das Harburger Theater, das Haus im Park in Bergedorf sowie seit 2013 auch noch über die Burgfestspiele Jagsthausen, 2012 die Hamburger Privattheatertage (PTT) ins Leben rief, da wirkte das zunächst mal wie eine listige Lobbyaktion für eine Theaterform, die eine gewisse Image-Aufhübschung ganz gut vertragen konnte. Der Terminus „Privattheater“ fungiert ja als Sammelbegriff für Bühnen, die zwar einerseits feste Spielstätten, professionelle Ensembles und einen saisonalen Spielbetrieb unterhalten, dies aber eben nicht in öffentlicher Trägerschaft, sondern in einer privaten Rechtsform, sei es eine GmbH, ein eingetragener Verein oder auch mal eine Stiftung. Das Geld, das so ein Spielbetrieb verschlingt, und möglichst natürlich auch noch ein angemessenes Salär für den Besitzer oder Geschäftsführer eines solchen Unternehmens, muss folglich an der Kasse erwirtschaftet werden. Und da liegt ja der Verdacht nahe, dass man sich hier nach der Mainstream-Decke des Publikumsgeschmacks streckt.

 Seit Die Deutsche Bühne ein Themenheft gemeinsam  mit den Privattheatertagen produziert hat, ist sie Medienpartner des Hamburger Festivals.

Seit Die Deutsche Bühne ein Themenheft gemeinsam  mit den Privattheatertagen (PTT) produziert hat, ist sie Medienpartner des Hamburger Festivals und wird, wie auch 2022 wieder, bei den PTT ausgelegt. Foto: Detlef Brandenburg

Diese Betrachtungsweise ist allerdings schon deshalb stark vereinfachend, weil es natürlich Privattheater gibt, die von der öffentlichen Hand zwar nicht getragen, aber doch kräftig gefördert werden. Und das nicht nur per Finanzierung einzelner Projekte, sondern teils auch durch eine institutionelle Förderung, die regelmäßig gewährt wird, Planungssicherheit gibt und eine gewisse Risiko-Abfederung noch dazu. Solche Theater können auch ästhetisch durchaus mal was wagen. Und wenn Axel Schneider mit seinen Privattheatertagen in den vergangenen zehn Jahren eines bewiesen hat, dann dies: dass die Wirtschaftsform eines Hauses nicht eins zu eins auf das ästhetische Profil durchschlägt. Ja, es gibt sie ja natürlich: die großen Boulevardbühnen, die kleinen Komödienhäuser, die mächtigen Musical-Companys, die primär gewinnorientiert agieren. Aber selbst hier findet man himmelweite Qualitäts- und Ambitionsunterschiede. Daneben aber gibt es ganz andere „Privattheater“: kleine, ambitionierte Off- und Off-off-Bühnen, wo sich anfangs ein paar ästhetische Idealisten zusammengetan und sich irgendwo, wo’s nicht so teuer war, eine Spielstätte und Mitstreiter gesucht hatten, um gegen den Mainstream der Großbühnen ihr eigenes Ding zu machen. Und siehe da: Sie hatten Erfolg, mit dem Erfolg kamen Professionalisierung und Verstetigung, und plötzlich waren sie ein kleines, aber ästhetisch feines – „Privattheater“.

Das Ensemble von „Wir, Kinder der Sonne“ des „Theater Rottstr 5“ aus Bochum.

Schlussapplaus: Das Ensemble von „Wir, Kinder der Sonne“ des „Theater Rottstr 5“ aus Bochum. Foto: Detlef Brandenburg

So erging es beispielsweise dem Bochumer Rottstr 5 Theater. Die Lage dieser Off-Bühne in einem Hinterhof unter den Brückenbögen der Glückauf-Bahn unweit des Bochumer Rotlichtviertels zeugt noch unverkennbar von den Underdog-Anfängen: Gegründet von dem Schauspieler und Regisseur Arne Nobel sowie von Hans Dreher und dem Regisseur und Dramaturgen Martin Fendrich im Juni 2009 als freche Alternativ-Bühne zum damals von Elmar Goerden geleiteten Schauspielhaus Bochum, unterhält es heute einen regelmäßigen Betrieb mit Eigenproduktionen und Gastspielen, mit dem jungen Laienensemble young’n‘rotten und dem Kinderclub Truffaldinos.

Rainer Steinkamp, Juror in Kategorie „Zeitgenössisches Drama“ und ehemals Intendant des Scharoun Theaters Wolfsburg, stellt den Zuschauern im Harburger Theater die Theaterei Herrlingen vor. Im Hintergrund Barbara Fumians Bühnenbild zu „Altes Land“.

Rainer Steinkamp, Juror in der Kategorie „Zeitgenössisches Drama“ und ehemals Intendant des Scharoun Theaters Wolfsburg, stellt den Zuschauern im Harburger Theater die „Theaterei Herrlingen“ vor. Im Hintergrund Barbara Fumians Bühnenbild zu „Altes Land“. Foto: Detlef Brandenburg

Oder die Theaterei Herrlingen bei Ulm, ein Privattheater mit professionellem Ensemble, sehr reichhaltigem Spielplan und der Intimität eines Zimmertheaters. Seit der Gründung 1986 durch Wolfgang Schukraft bietet die Theaterei ganzjährig Theater, 2018 übernahm Edith Ehrhardt die Leitung, es gibt Schauspiel und Musikalisches, und im Erdgeschoss, direkt unterm Theater im Gasthaus Rössle, gibt’s beste schwäbische Küche und einen wunderschönen Biergarten.

Beide Bühnen zeigten bei den PTT 2022 auf völlig unterschiedliche Weise Dramatisierungen vorliegender künstlerischer Texte: An der Rottstraße 5 hatte Alexander Ritter Gorkis „Kinder der Sonne“ auf eine Drei-Personen-Fassung für die Schauspielerinnen Monika Bujinski, Hella Birgit Mascus und Yvonne Forster kondensiert, die praktisch die gesamte Handlungs- und Konfliktstruktur eliminiert und lediglich noch ein über eine Cholera-Epidemie und einen Volksaufstand hingweg räsonierendes und luxurierendes Bildungsbürgertum-Milieu ausstellt. Das ist sehr gut gearbeitet – bleibt aber irgendwo in einem luftleeren Ästhetizismus hängen, weil trotz der ja gegebenen Parallelen zu unserer Gegenwart der Pandemie und der alternativen Fakten die Texte niemals zu einer treffenden Gegenwarts-Relevanz zugespitzt werden.

Ursula Berlinghof und Lisa Wildmann in „Altes Land“ der Theaterei Herrlingen.

Ursula Berlinghof und Lisa Wildmann in „Altes Land“ der „Theaterei Herrlingen“. Foto: Andreas Zauner

Grandioses Schauspieler-Theater bot auch die Theaterei und auch hier wurde eine personenreiche Vorlage, Dörte Hansens erster großer Roman „Altes Land“, zu einem hochverdichteten Extrakt für die phantastischen Schauspielerinnen Agnes Decker, Lisa Wildmann und Ursula Berlinghof zusammengezogen, die mit begeisternder Brillanz und permanentem Umkleiden zwischen den verschiedenen Rollen jonglieren. Im Gegensatz zu den Bochumer „Kindern der Sonne“ allerdings löst sich die Regisseurin Edith Ehrhardt so ganz und gar nicht von der Vorlage, so dass es bei einer dramaturgisch länglichen, konzeptionell braven Travestie eines Romans in ein dramatisches Genre bleibt, die allerdings am Ort der Aufführung, dem Harburger Theater, immerhin mit Heimat-tümelndem Lokalkolorit wuchern konnte und entsprechend gefeiert wurde.

Eine der über ganz Hamburg verteilten Spielstätten der Privattheatertage: das Harbuger Theater. Foto: Detlef Brandenburg

Eine der über ganz Hamburg verteilten Spielstätten der PTT: das Harbuger Theater. Foto: Detlef Brandenburg

Trotz solcher Einwände legen beide Produktionen aber eindrucksvoll Zeugnis ab von der ästhetische Ambition und Leistungskraft des Genres „Privattheater“, die mit diesem 2022er-Programm so eindrucksvoll dokumentiert wird wie lange nicht mehr: Das Wolfgang Borchert Theater ist mit einer Adaption von E.T.A. Hofmanns „Sandmann“ von Luisa Guarro dabei, das Figurentheater Cipolla Schaulust Bremen e.V. zeigt das Stück „Keller“ nach Dostojweski, „Automatenbüfett“ kommt vom Theater im Bauturm Köln, aus Stuttgart gibt es „Snowden 3.3“ des Theaters tri-bühne, das Schlosspark Theater Berlin bringt „Ein deutsches Leben“, die Stiftung Theater Lindenhof Melchingen ist mit einem „Eingebildeten Kranken dabei“,  das Hofspielhaus München mit „Der Kontrabass“, die Kulturbühne Spagat München zeigt mit „MARTHA“ und „Kitzeleien – Der Tanz der Wut“ gleich zwei phantasievolle Crossover-Produktionen. Man sieht „Clockwork Orange“ vom Zentraltheater München und „Die Wahrheiten“ vom Metropoltheater München – all dies und noch viel mehr hatte die neunköpfige Jury bereist, aus 119 Bewerbungen ausgesiebt und, in drei Stück-Kategorien eingeteilt (Zeitgenössisches Drama, Klassiker, Komödie), zum Gastspiel nach Hamburg gebeten.

Fester Bestandteil der Privattheatertage: die Vorgespräche zur Vorstellung der Ensembles, hier mit Moderator Peter Helling (rechts) und Alexander Ritter vom „Rottstr 5 Theater" Bochum.

Fester Bestandteil der PTT: die Vorgespräche zur Vorstellung der Ensembles, hier mit Moderator Peter Helling (vor dem PTT-Transparent rechts) und Alexander Ritter vom „Rottstr 5 Theater“ Bochum. Foto: Detlef Brandenburg

Aus den insgesamt zwölf Produktionen wird nun die sogenannte „Hamburg-Jury“ die drei Monica-Bleibtreu-Preisträger auswählen, außerdem gibt es einen Publikumspreis (mit „Altes Land“ als heißem Anwärter). Von der Gala am 3. Juli, wo die Sieger vorgestellt werden, werden wir nochmals berichten. Das ist eine eindrucksvolle Leistungsschau – und vor diesem Hintergrund ist es durchaus beunruhigend, dass die Finanzierung der PTT 2023 bislang nicht gesichert ist. Dafür werden jetzt bereits eifrig Unterschriften gesammelt und gegeben, und in der Tat: Dieses Festival hat sich in den zehn Jahren seines Bestehens unverzichtbar gemacht!