DIE DEUTSCHE BÜHNE
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Premiere: 2022-08-12 Theater: Turbinenhalle/Ruhrtriennale
Foto: Katja Illner
Aktuelles aus der Theaterwelt: Meldung, Veranstaltung, Medientipp, Festival- und Stream-Planer
„If you deal with it you don’t do it“ sagte der Komponist Peter Maxwell Davies 2006 in einem 20-minütigen Interview mit dem Journalisten Paul Driver. Er meint das Thema seiner 2000 uraufgeführten Oper „Mr Emmet takes a Walk“: Es geht um den Selbstmord des Protagonisten. Wir erleben den berühmten letzten Moment vor dem Tod, an dem das Leben an einem vorüberziehen soll (und wovon, logisch, noch niemand hat berichten können) als ein chaotisches, aber überraschend transparentes musikalisches Netzwerk für drei Solo-Stimmen und zehn Musiker:innen. Mr. Emmet brabbelt absurde Aufzählungen und hat skurrile Begegnungen. Inhaltlich wie musikalisch entstehen Linien, die – bereits im Hören – gleichzeitig konkret und abstrakt anmuten und einen definitiv nicht kalt lassen. Sie scheinen nirgendwohin zu führen und klingen doch endgültig.
Was vielleicht damit zu tun hat, dass der 1934 geborene Maxwell Davies zum Zeitpunkt der Komposition an einem Punkt in seiner Karriere war, wo er sich von den großen Formen – Oper und Sinfonie – endgültig verabschieden wollte. So trägt „Mr. Emmet goes for a walk“ viele der bekannten, bekannt schwer zu fassenden Züge eines Spät- und Abschiedswerkes. Und klingt doch frisch und unerhört. Vielleicht auch deshalb, weil Librettist (und Uraufführungsregisseur) David Pountney und der Maxwell Davies ein eingespieltes Team waren. Peter Maxwell Davies‘ größter Anspruch an ein Libretto – „You have to leave the music plenty of ,Lebensraum’“ ist hier voll erfüllt. Der Komponist hat sogar die Möglichkeit, Momente einzubauen, die er selbst „Memory Music“ nennt. Hier lässt er musikalische Motive seiner Hausgötter Bach, Gabrieli, Mozart und Schumann (auch dramaturgisch) kunstvoll an die Oberfläche treiben.
Die Uraufführung fand im Jahr 2000 auf den Orkney-Inseln statt, der Wahlheimat des Komponisten. Sie wurde produziert von Psappha, dem führenden professionellen Ensemble für die Aufführung neuer Musik im Norden Großbritanniens, 2005 in der Uraufführungsbesetzung eingespielt, die, warum auch immer, erst jetzt greifbar ist. Unter dem Dirigenten Etienne Siebens wird fantastisch musiziert, sehr dynamisch, sehr transparent. Der Bariton Adrian Clarke gestaltet Mr. Emmet mit fast hermetisch introvertierter Intensität, der Bass-Bariton Jonathan Best und besonders die Sopranistin Rebecca Caine beeindrucken durch große Musikalität und noch größere Spielfreude und Wandlungsfähigkeit.
So ist diese CD, die als Bonustrack dankenswerterweise das oben angesprochene Interview enthält, nicht nur ein Genuss an sich, sondern auch ein Grund mehr, sich mit den eigenwilligen dramatischen Hervorbringungen von Peter Maxwell Davies zu beschäftigen, was ja an deutschen Theatern immer wieder passiert, sei es mit „The Lighthouse“ (Der Leuchtturm), „Eight Songs for a Mad King“ oder eben „Mr. Emmet Takes a Walk“, zuletzt am Theater Freiburg in einer Inszenierung von Herbert Fritsch ausprobiert. Für die aktuelle Spielzeit sind immerhin die Kinderoper „Cinderella“ in Graz und das hierzulande vollkommen unbekannte „Miss Donnithorne’s Maggot“ in Kombination mit den „Eight Songs“ in Mainz geplant.
Kleine Pointe am Schluss: Peter Maxwell Davies‘ Rückzug von den großen Formen hielt „nur“ knapp zehn Jahre. Zwischen 2011 und 2013 entstanden seine Sinfonien 9 und 10 sowie die Oper „Kommilitonen!“, Kompositionen, die von großer Lebendigkeit und noch größerer Eigenwilligkeit leben, gerade in der Haltung. Hier hört man weder Alter noch Abschied. 2016 ist Peter Maxwell Davies nach schwerer Krankheit gestorben.
„Mr Emmet Takes a Walk“ ist unter der Nummer PsaCD1002 beim hauseigenen Label von Psappha erschienen und wird in Deutschland über Naxos vertrieben. Das Album erscheint am 12. August und kann HIER physisch und digital erworben werden. Einen Ausschnitt gibt es HIER zu hören.
Natürlich. Vom Lockdown möchte keiner mehr etwas hören. Das ist vorbei und darf sich nicht wieder ereignen. Basta. Nun ist aber ein Film erschienen, der eine Geschichte von einem Lockdown erzählt, der (noch) wesentlich härter war als das, was viele deutsche Theater erdulden mussten.
Von März 2020 bis Juni 2021 war die Pariser Oper fast durchgängig geschlossen. Die 70-minütige Dokumentation von Priscilla Pizzato beschreibt dieses unnatürlich lange Leben am Theater ohne Publikum anhand einer Ikone des Pariser Ballettrepertoires, „La Bajadère“ mit der Musik von Ludwig Minkus, 1992 nach den Notizen von Marius Petipa zur Uraufführung neu kreiert von Rudolf Nurejew. Im März 2020 sollte eine komplett neu besetzte Neueinstudierung an der Opéra de Paris herauskommen, im Juni 2021 konnte sie tatsächlich stattfinden, nachdem die Produktion im Dezember 2020 gestreamt worden war.
Pizzatos Film schildert eindrücklich, wie schwierig, ja wie unnatürlich ein Theater ohne Publikum für Theaterschaffende auf und hinter der Bühne ist – und gibt gleichzeitig Einblicke in die Arbeit einer großen Compagnie für klassisches Ballett. Gerade durch die Zerdehnung des Probenprozesse auf nahezu allen Ebenen und dessen filmische Aufarbeitung erfährt man plastisch, wie eine Choreografie an einem großen Haus für die Bühne umgesetzt wird.
Vor allem der Ballettlaie bekommt unerhört plastisch den merkwürdigen der Kunst des klassischen Tanzes immanenten Dualismus vorgeführt: Wie ein Maß an Strenge auf der einen, Disziplin auf der anderen Seite, wie man es in kaum einem anderen Arbeitsfeld finden wird, in einen – gelegentlich sogar unerhört schwerelosen – ungeschminkten Ausdruck von Lebensfreude mündet. Wobei auch gezeigt wird, wie zugewandt, ja freundlich diese Strenge daherkommen kann und wie sehr es darum geht, wiederholbare Abläufe für diesen so mirakulösen Ausdruck zu finden. Und wieviel Leidenschaft mit all dem verbunden sind. Und wie furchtbar es sich gerade für Tänzer:innen anfühlt, mehr als ein ganzes Jahr in ihrer kurzen Karriere nicht vor Publikum auftreten zu können, ein Verlust, der nie erstattet werden kann.
Als Dreingabe sind die Ballettszenen, ob nun mit Kostüm oder ohne, so instruktiv gefilmt, dass einem ob der oft die Überwindung der Schwerkraft suggerierenden Körperbeherrschung und Musikalität immer mal wieder der Mund offen stehen bleibt. Wie gesagt: Für den zugeneigten Ballettlaien – wie den Schreiber dieses kleinen Textes – öffnet das einen neuen Blick auf eine heute oft marginalisierte Kunstform. Der Profi mag das alles oft erlebt und gesehen haben. Der Film bleibt dennoch außergewöhnlich, gerade durch die in doppelter Hinsicht historische Perspektive.
Opéra de Paris – une saison (très) particulière, 70-minütige Dokumentation von Priscilla Pizzato in französischer Sprache mit englischen Untertiteln und Bonusmaterial (Gespräch mit der Directrice de la Danse Aurèlie Dupont und Probenausschnitte mit den Danseurs Étoiles der Compagnie).
Die DVD ist bei BelAir unter der Nummer BAC196 am 13. Mai 2022 erschienen, auch als Blu-ray erhältlich und wird zum Preis von 24,99€ im Handel angeboten. Den Trailer gibt es HIER zu sehen.
Seit dem 27. Februar berichtet die ukrainische Theatermacherin Viktoria Shvydko für uns über die neue Realität ihres Theaters Lesi in Lwiw (Lemberg). Hier folgt der siebte Teil: Sie berichtet über ein seit fünf Monaten andauerndes Leben zwischen Bombenangriffen auf Wohnungen, Auslandsreisen des Theaters, sie analysiert wie Hass notwendigerweise im Krieg entsteht und beobachtet große Solidarität in der ukrainischen Zivilgesellschaft.
Das ist kein Tagebuch – VII. Teil
5 Monate. 151 Tage.
Der 24. Juli war ein sehr trauriger Tag. Darauf habe ich mich vorbereitet. Ich hatte mich schon ein paar Tage zuvor depressiv gefühlt. Seit dem Morgen hatte ich die Nachrichten gelesen und nur geweint. Ich habe immer noch genug Tränen, um zu weinen. Es ist seltsam, weil ich dachte, sie würden früher enden.
Um ehrlich zu sein, ertappte ich mich dabei zu denken, dass ich immer noch nicht realisierte, was passierte. Offensichtlich lese ich wie Millionen anderer ukrainischer Männer und Frauen die Nachrichten, spende Geld für verschiedene Bedürfnisse verschiedener Menschen und mache meine Arbeit mit dem Gedanken an den Sieg und das Leben „danach“ – jeden Tag in den letzten fünf Monaten. Aber gleichzeitig sehe ich immer noch eine parallele Realität, in der Kinder von einer Schockwelle auseinandergerissen werden; wo Hochhäuser wie meines von Raketeneinschlägen durchlöchert sind; wo schöne und mutige junge Männer begraben sind; wo Gefangene gefoltert und zu Tode gebracht werden; wo sich inmitten von Weizenfeldern riesige Gruben aus Granaten oder Raketenfragmenten befinden; wo die ganze Welt die Bedrohung zu verstehen scheint, aber immer noch das verabscheuungswürdige und unmenschliche Verhalten von Terroristen und Invasoren toleriert, die in die Ukraine eingedrungen sind.
Ich weiß, dass dies keine parallele Realität ist. Ich weiß, dass die Menschheit sehr gewachsen ist und mit einer Vielzahl von Systemen und Abhängigkeiten überwuchert ist. Aber ich verstehe nicht, wie in diesem Stadium der zivilisatorischen Entwicklung jahrzehntelang so viele barbarische Taten von ein und demselben Land begangen werden können. Und jedes Mal – nur mit dem Ziel, die Existenz des „Anderen“ zu zerstören und zu leugnen. Viele Menschen in der Ukraine sind gut ausgebildet und haben Kenntnisse über verschiedene soziale, philosophische, politische oder kulturelle Konzepte des Zusammenlebens der Menschen. Wir kennen die Begriffe Empathie, Toleranz, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Inklusion und Diskriminierung. Aber wenn Ihr Haus in Sekundenschnelle in Schutt und Asche gelegt wird, Ihre Kinder in friedlichen Städten von Schockwellen getötet werden und Ihre Jugend durch die Hände von Besatzern stirbt, dann ist keine Kenntnis eines Konzepts von Bedeutung. Denn in dieser Situation ist das Einzige, was Sie antreibt, sich selbst und alles zu schützen, was Ihnen lieb und teuer ist – Kinder, Geliebte, Angehörige, Heimat und das Land, in dem Sie Ihr Leben leben.
Vielleicht ist es ohne empirische Erfahrung wirklich schwer zu verstehen. Aber ich möchte jedem wärmstens empfehlen, diejenigen beim Wort zu nehmen, die leider eine solche Erfahrung gemacht haben.
Porträts in Kriegszeiten
Meine Freundin Veronika stammt aus Charkiw. Durch einen glücklichen Zufall verließ sie am 23. Februar ihre geliebte Heimat Charkiw, weil sie mit ihren beiden Kindern und ihrem Ehemann einen Urlaub plante. Daher hörte sie die ersten Sirenen in Transkarpatien. Und schon zehn Tage danach erlebte sie mit zwei kleinen Kindern die längste und schwierigste Reise in einem überfüllten Bus. Von ihrem Ehemann verabschiedete sie sich auf unbestimmte Zeit. In diesen fünf Monaten musste sie Flüchtling werden, sich allein um ihre Kinder in einem fremden Land kümmern und dann den Eltern bei der Flucht aus Charkiw helfen und auch in einem fremden Land zu Flüchtlingen werden.
Ich habe keine Ahnung, woher sie so viel Kraft und Ausdauer hat, sich um all ihre Angehörigen zu kümmern, so weit von ihren Geliebten entfernt zu sein und jeden Tag, jeden einzelnen Tag seit dem 24. Februar, die Nachrichten darüber zu lesen, wie es ihrer geliebten Heimatstadt geht, Schritt für Schritt von den Russen mit allen möglichen Waffentypen vom Erdboden gefegt. Aber sie wird es aushalten. Wie Charkiw. Denn ihr bleibt nichts anderes übrig, als es auszuhalten.
Sasha, der Verlobte meiner Freundin. Sasha lebte drei Monate lang mit meiner Schwester und mir in einer Wohnung. Er ist ein ausgezeichneter Film- und Theaterproduzent. Er wurde in Charkiw geboren, lebte aber die letzten 17 Jahre in Kyiw. Zwei Wochen vor der Invasion kehrte Sasha nach Charkiw zurück, um dort mit Veronika ein neues Leben zu beginnen. Stattdessen musste er sich den Raum mit zwei Mädchen teilen, die er damals nicht gut kannte. Gestern war Saschas Geburtstag. Und vorgestern kam er aus Charkiw zurück, wo er Veronikas Vasen und ihren Kater namens Iwan Franko abholte. Er sagte, dass es in Charkiw jeden Tag und jede Nacht Explosionen gebe. Jeden Tag. Die Stadt wird vor den Augen der Menschen zerstört, aber viele dieser Menschen bleiben dort – trotz allem.
Die Schwester meiner Freundin beantragt den Flüchtlingsstatus für sich und ihre Familie – drei Kinder im Alter von einem Jahr, vier Jahren und fünf Jahren und ihren Ehemann. Denn jedes Mal, wenn in Lwiw Fliegeralarm ertönt, versammelt sie ihre kleinen Kinder am sichersten Ort in ihrer Wohnung, und jedes Mal überlegt sie, ob sie Zeit haben wird, sie mit ihrem Körper zuzudecken, wenn eine Rakete ihr Haus trifft. Sie fragt sich, ob es sie retten wird, wenn sie es tut. Deshalb hat sie sich entschieden, mehr Sicherheit für ihre Kinder zu finden. Obwohl es ihr eine unsagbar schwere Entscheidung ist, ihre Heimat zu verlassen.
Die Schauspielerin unseres Theaters, Nastia, sitzt an der Bushaltestelle in Avignon. Sie versuchte ihr Bestes, um stark zu sein, aber sie konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Weil wir gerade erfahren haben, dass die Russen Raketen auf das Kulturhaus in ihrer Heimat Winnyzja abgefeuert haben. Mitten am Tag, mitten in einer friedlichen Stadt, hunderte Kilometer von der Front entfernt. Nastias Vater arbeitete in einem Gebäude in der Nähe. Wie gut, dass er an diesem Tag nicht bei der Arbeit war und nicht starb wie Dutzende von denen, die nur vorbeigingen oder bei ihrer Arbeit waren. Wie ironisch und schrecklich, dass Nastias Vater seit mehreren Monaten an der Front ist. Am Tag zuvor sprach Nastia auf der Bühne des Avignon-Festivals ihren Monolog über den Krieg und die Russen – einen sehr willensstarken Monolog. Über einen festen Standpunkt und Vertrauen in Sieg, Gerechtigkeit und Strafe.
Anton, ein Performer und Theaterforscher, mit dem wir gemeinsam viele Theaterworkshops und Festivals besuchten, und seine geliebte Sasha. Sie sind LGBTQ+-Aktivisten, die sich in den ersten Tagen der Invasion der territorialen Verteidigung von Kyiw angeschlossen haben. Und ging dann in die Reihen der Streitkräfte. Und jetzt heben sie Gräben aus und halten die Stellung an der Front. Wo genau sie sich befinden, ist nicht bekannt. Es ist bekannt, dass sie darüber nicht sprechen können. Und wir müssen glauben, dass mit ihnen alles gut wird.
Artem, ein wunderbarer Regisseur und Schauspieler, der sich grundlegend mit unabhängigem Theater beschäftigt, vielleicht ist er der Beste in der Ukraine. Nina, seine Freundin, eine fantastische Darstellerin, hat Artem am 24. Februar fast gewaltsam aus Charkiw mitgenommen. Artem konnte lange Zeit nicht verstehen, was passiert ist und wie sie nach Lwiw gekommen sind. Und dann ging Nina ins Ausland, weil Artem wollte, dass sie wenigstens in Sicherheit war. Und ein paar Wochen später erfuhren sie, dass die Russen auch ihr Haus getroffen hatten. Jetzt gibt es keine Fenster mehr in ihrer Wohnung. Ich werde nie die Augen von Artem vergessen, der mir von seinen Sachen und Büchern erzählt, die dort in dieser Wohnung zurückgelassen wurden. Denn es ging nicht wirklich um Dinge – es ging um ein Stück seines Lebens, auf das geschossen wurde und das langsam hinter den zerbrochenen Fenstern seiner Wohnung verschwand.
Meine Freundin Olia ist eine weise, ruhige, organisierte und sehr rationale Person. In Nürnberg (auf dem Weg von Avignon in die Ukraine) rauchten wir gemeinsam nach einer weiteren enttäuschenden Nachricht aus der Ukraine. Olia gab zu, dass sie beim Kofferpacken nicht daran gedacht habe, was sie in den nächsten vier Tagen brauchen könnte. Sie überlegte, was sie für die Veranstaltung einpacken sollte, falls in diesen paar Tagen etwas passiert, dass wir nicht in die Ukraine zurückkehren können. Sie sagte, dass sie jedes Mal, wenn wir auf Auslandsreisen gehen, das Gleiche denkt: Was ist, wenn wir nirgendwo hingehen können?
Dies sind nur einige Geschichten von meinen Freunden und Verwandten. Denn jetzt haben wir alle unsere eigene Geschichte über den Krieg. In diesen fünf Monaten hat sich alles um mich herum verändert. Dinge und Konzepte haben neue Bedeutungen erhalten. Gefühle wurden ausgeprägter und stärker. Wir haben verstanden, was Hass ist. Dazu wurden wir an einem Morgen im Februar gezwungen, was nun schon seit fünf Monaten so ist. Wir werden nie wieder so sein wie vor dieser Kriegsphase. Niemals.
Ein bisschen über das Theater
Die ersten drei Monate konnte ich nichts planen. Genauer gesagt, ich könnte, aber nur auf zwei Arten – „in zwei Tagen“ (was tatsächlich dem Hier und Jetzt entsprach) und „nach dem Sieg“ (was tatsächlich außerhalb des Zeit-Raum-Kontinuums war). Und das war's nichts dazwischen, keine anderen Optionen. Und dann ging es mit der Performance „I want life“ nach Deutschland, wo ich eine der stärksten Katharsis erlebte, die etwas in mir löste und ich als Projektmanager neu zu denken begann.
Und dann wurden wir von einem speziellen Programm zum Avignon Off-Festival eingeladen. Und wir sind dorthin gegangen, damit auch dort die Stimme des ukrainischen Theaters zu hören ist! Aus ganz unterschiedlichen Gründen war dies eine große Herausforderung für unser Team. Wir haben es jedoch geschafft! Ich war noch nie so stolz auf meine Kollegen, wirklich!
Und jetzt versuchen wir alle, wieder zu planen, denn Avignon hat uns eine ganze Menge von Einladungen für die „Imperium delenda est“-Tournee gebracht. Ich mache wieder meine Arbeit – suche nach Förderanträgen, verhandle mit Partnern und schreibe Arbeitsbriefe. Alles ist gleich, aber gleichzeitig völlig anders. Denn jetzt dreht sich immer alles um den Krieg – seine Folgen, Risiken und ob wir Zeit haben, uns während des Luftangriffs zu schützen.
Viele Theater in der Ukraine funktionieren nicht. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Weil ihre Räumlichkeiten beschädigt sind; weil die Schauspieltruppe in verschiedene Städte oder Länder ging; weil die Mitarbeiter kein Gehalt bekommen. Tatsächlich ist es sehr schwierig, während des Krieges Theater zu machen. Aber es ist unmöglich, dies nicht zu tun.
Warum ist es gerade jetzt wichtig, durch Kunst, insbesondere Theater, über die Ukraine zu sprechen? Dies ist keine sehr vernünftige Frage, da es eine Reihe von Antworten gibt, und sie sind ziemlich offensichtlich. Aber meine vorgezogene Antwort ist, dass die Ukrainer über sich selbst sprechen können. Denn sehr oft wurden wir als Teil eines Kontextes präsentiert. Natürlich wird alles immer in einem bestimmten Zusammenhang dargestellt. Aber es ist sehr wichtig, dass dieser Kontext von verschiedenen Stimmen zum Ausdruck gebracht wird. Deshalb ist es jetzt so wichtig, dass die ukrainische Stimme gehört wird – damit andere sie erkennen; damit wir selbst verstehen, wie diese Stimme klingt und wie sie klingen kann; damit wir der Welt am Ende mehr darüber erzählen können, wer die Ukraine ist und warum sie wichtig ist. Und die Hauptsache ist, dass wir gehört werden.
PS: Die Kurve der Veränderungen
… Panik und Angst – Einheit durch Weltunterstützung – Wut – die Euphorie des nahen Sieges – Trauer – Wut – Erschöpfung – Akzeptanz der Trauer – noch größere Wut – Verzweiflung und Enttäuschung – Einheit durch Wut – was als nächstes fühlen? …
Wut ist jetzt die Quelle unserer Stärke. Leider. Aber solange die Besatzer unsere Häuser mit Raketen zerstören, Minen auf die Straßen legen, unsere Felder mit Ernten in Brand setzen und unsere Zivilisten töten, bis dahin werden wir wüten und unsere Heimat verteidigen. Wir haben keinen anderen Ausweg.
Es ist ironisch, dass es neben dieser Wut einen riesigen Raum der Dankbarkeit, Unterstützung und Liebe füreinander unter uns gibt. Jeden Tag finden Hunderte von Spendenaktionen für ganz unterschiedliche Bedürfnisse statt – vom Kauf von Wasser für Mykolajiw bis zu Bayraktars (eine Aufklärungs- und Kampfdrohne) für die Streitkräfte. Diese Spendenaktionen werden von völlig unterschiedlichen Personen durchgeführt, aber sie alle bilden ein großes Rhizom (ein unter dem Boden wachsender, mehrere Jahre überdauernder Spross, Anm der Red.) ukrainischer Männer und Frauen. Natürlich schließen sich viele Menschen aus anderen Ländern diesem Rhizom an, das absolut faszinierend und unglaublich menschlich ist.
Diese Zusammengehörigkeit, die wir jetzt haben, ist jedoch eines der wertvollsten Dinge, die wir gewonnen haben.Wir werden nach dem Sieg viele Sorgen haben. Wir werden viele Wunden haben, die viele Jahre lang behandelt werden müssen. Aber dieser Zusammenhalt ist jetzt der größte Indikator dafür, dass sich die Zivilgesellschaft in diesem Land gerade jetzt fast in Lichtgeschwindigkeit bildet. Und für mich bedeutet das, dass die Kultur, die wir entdeckt und geschaffen haben, wichtig ist. Denn bei unserer gemeinsamen Front geht es jetzt insbesondere um unseren gemeinsamen kulturellen Hintergrund.
Text: Viktoria Shvydko, Lwiw
Übersetzung: Anastasia Horyn
Das ist kein Tagebuch – VI. Teil
113 Tage des Krieges
Es ist unmöglich zu beschreiben, was in dieser Zeit mit uns allen passiert ist. Ich fühle mich immer erschöpft und fühle mich immer schuldig – weil ich das Recht habe,
über Erschöpfung zu sprechen, wenn ich einen Nachrichtensender aus Charkiw, Cherson, Slovyanska, Popasna und einer Reihe anderer Städte und Dörfer lese, in denen Luftalarm nicht einmal Zeit lässt zum Einschalten des Radios. Sie haben keine Zeit, weil die Raketen schneller ankommen. Und erst nach den Explosionen geht die Sirene los.
Psychologen sprechen von einem „Survivor-Syndrom“. Meistens schaffe ich es, damit umzugehen. Ich muss. Das muss ich schließlich auch, weil ich Teil unserer Reserve bin. Es sind 113 Tage vergangen. Es ist gut, dass es ein Theater in meinem Leben gibt. Nach längerer Verzweiflung darüber, was das Theater in diesem Horror, in dem mein Land jetzt lebt, ausrichten kann, habe ich verstanden: Das Theater ist eine Therapie – sowohl für die, die dort arbeiten, als auch für die, die dorthin gehen.
Über meine Oma
Ich hörte auf, auf Daten und Tage zu achten. Fast jeden Tag gebe ich mehrmals an, welcher Wochen-, Kriegs- oder Monatstag heute ist. Ja, ich habe nicht bemerkt, dass ich den Todestag meiner Großmutter vergessen habe. Eigentlich war sie meine Urgroßmutter, aber sie half meinen Eltern, mich und meine Schwester großzuziehen.
Großmutter Paranka starb im Alter von 102 Jahren und schaffte es, die größten Schrecken zu überleben, die sich im 20. Jahrhundert in der Ukraine ereigneten. Sie war 7 Jahre alt, als der Erste Weltkrieg begann. Sie war 15, als die Sowjetunion entstand. Sie war 26, als der Holodomor stattfand. Sie war 31 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann. Das heißt, als sie in meinem Alter war, wusste meine Urgroßmutter nicht, wie ein friedliches Leben ist – weil alle paar Jahre ein neuer Horror stattfand, der alles Erbaute zerstörte.
Sie war 39 Jahre alt, als sie wegen Kollaboration mit der ukrainischen Aufstandsarmee verurteilt und nach Sibirien geschickt wurde. Sie musste fünf minderjährige Kinder zu Hause lassen. Sie war 46, als sie lebend nach Hause zurückkehrte. Und sie kehrte nur deshalb so schnell zurück, weil Stalin schließlich starb. Und viele Sträflinge wie unsere Oma erhielten eine „Begnadigung“. Und dann gab es noch viel Arbeit und ein Leben fast unter der Armutsgrenze. Aber sie baute ihr Haus und zog ihre Kinder groß, einige ihrer Enkel und zwei Urenkel, und gab ihnen alles, was sie hatte, und noch mehr.
Sie hatte einen tadellosen Ruf in dem Dorf, in dem sie lebte. Sie war trotz allem eine schöne Frau. Ich habe das große Glück, ihre Gesichtszüge jedes Mal sehen zu können, wenn ich mich im Spiegel betrachte. Großmutter Paranka war eine wunderbare Großmutter. Aber ich habe zu spät von ihrem Leben erfahren. Sie hat fast nie etwas darüber gesprochen. Aber sie hat uns immer gebeten, ihr auf Ukrainisch vorzulesen, die Lieder zu singen, die sie uns beigebracht hat, und ihr Gedichte vorzulesen, die sie uns auch beigebracht hat. Und sie wiederholte oft, dass es nichts Schlimmeres als Krieg gibt. Nun umarmt er uns und betont damit all die Wärme, all die Freude, die wir hatten, auch von ihr.
Ich bin so froh, dass sie nicht gesehen hat, was seit 2014 mit uns passiert ist. Ihr großes Herz hat in all den 102 Jahren ihres Lebens so viele schreckliche Dinge durchgemacht. Aber wenn die Großmutter jetzt hier wäre, würde mein Herz noch mehr zerrissen werden. Die Enkelinnen lagen ihr so am Herzen und sie wollte sie vor allem vor dem Krieg schützen; sie brachte ihren Kindern und sogar ihren Enkelkindern fleißig bei, besser zu leben als Oma; sie teilte ihre schrecklichen Erinnerungen nicht, weil sie an eine andere Zukunft für uns glaubte. Ich könnte die unsägliche Verzweiflung und Trauer einfach nicht ertragen. Denn wie viele Generationen in der Ukraine müssen noch Kriegserfahrungen machen? Warum passiert uns das immer noch?
Über das Theater
In den ersten zwei Monaten nach der Invasion war das Theater Lesia Ukrainka ausschließlich ehrenamtlich tätig. Wir haben das ganze System von verschiedenen
Tätigkeitsbereichen geschaffen und fantastisch effektiv umgesetzt. Ich habe nicht erwartet, dass wir das schaffen. Die ersten zwei Monate wusste keiner von uns, wie wir wieder mit dem Theater anfangen würden. Doch wir haben angefangen.
Aber mehr als 100 Tage Krieg sind vergangen - wir haben uns angepasst. Wir haben ein Repertoire. Wir haben sogar eine Tournee nach Deutschland gemacht. Aber am wichtigsten - wir haben eine neue Aufführung geschaffen – „Imperium delenda est“. Diese musikalische und poetische Aufführung zu schaffen, ist uns sehr wichtig. Denn es handelt sich nicht nur um eine Neuproduktion. Dies sind Gedichte, die von Lemberger Dichtern nach dem 24. Februar geschrieben wurden; das sind Volkslieder, die in den Klang des Arrangements des Autors umgewandelt werden; das sind Monologe über Besatzung, Geschrei und Fluchen – weil uns die Worte fehlen. Vorerst wird diese Aufführung unsere Stimme im Ausland sein. Das Theater ist eine der Säulen der Kultur.
Und als wir eines Tages alle Freiwillige wurden, baute das Theater eine andere Kultur auf – eine Kultur des Schutzes, der Sicherheit, der Unterstützung und des Verständnisses. Damit kann das Theater seine Funktion nicht nur durch Aufführungen erfüllen, sondern auch in der Gesellschaft vertiefen und Gemeinschaft schaffen.
Wir werden lernen, über unseren Schmerz und unsere Stärke zu sprechen. Wir werden versuchen, andere theatralische Wege zu finden, um der Welt zu sagen, wer wir sind. Über unsere Identität sprechen. Über unsere eigene Kultur, die nicht mit Borschtsch endet oder beginnt, einem Kranz auf dem Kopf eines jungen Mädchens und einer weiten Hose (Scharowary) an einem jungen Mann. Wir müssen das tun, weil ich wie meine wunderbare Großmutter möchte, dass meine Kinder nicht wissen, was Krieg ist. Und ich glaube, dass meine Chancen, sie davor zu schützen, etwas höher sind als bei meiner Großmutter. Aber wie sie haben wir alle viel zu tun.
Über den Tod junger Menschen
Letzte Woche war mein gesamter Newsfeed mit Berichten von verschiedenen Quellen und Leuten über den Tod von Roman Ratuschnyj gefüllt. Er starb zwei Tage vor seinem 25. Geburtstag an der Frontlinie. Ich kannte Roman nicht persönlich, aber die besten Leute in der Ukraine kannten ihn: Aktivisten, Schriftsteller, Künstler, Manager, Politiker, Lehrer und Studenten. Seit er 2014 volljährig wurde, hat er sich zu einem wahren Titanen der ukrainischen Zivilgesellschaft entwickelt. Und er starb zwei Tage vor seinem 25. Geburtstag. Dies ist die letzte Wunde des Verlustes, die jetzt in mir und einer Reihe von Menschen heilt. Aber in diesen 100 Tagen hat die ukrainische Gemeinschaft eine Menge solcher Wunden erlitten. Einige von ihnen waren lokal, und einige (wie Roman) wurden zur öffentlichen Trauer.
Vor einem Monat füllten sich meine Augen jedes Mal mit Tränen, wenn ich die Nachricht vom Tod eines ukrainischen Soldaten hörte. Die meisten von ihnen waren so jung. Sie sind zu meinem großen Bedauern immer so jung. Dann kam ich auf symbolischen Unsinn – ein trauriges Emoji unter Facebook-Posts über einen weiteren Tod eines anderen jungen und tapferen ukrainischen Soldaten zu hinterlassen.
Mit der Zeit hörte ich auf zu weinen. Meine Augen füllen sich nicht mehr mit Tränen. Nicht, weil es mir egal wäre. Es wird einfach zu einem ständigen Schrei – für alle zusammen und für jeden einzeln. Ich denke darüber nach, was ich für diese Jungs und Mädchen tun kann? Ich zünde Kerzen an. Ich habe traurige Emojis unter Facebook-Posts gesetzt. Ich lese die Namen von jedem sorgfältig. Es ist dürftig, aber ich weiß nicht, wie ich auf andere Weise um sie trauern soll. Aber ich weiß, was ich für die tun kann, die weiterleben und für die all diese Soldaten gestorben sind. Ich kann eine Barriere zwischen ukrainischer und russischer Kultur schaffen.
Ich kann Teil eines Prozesses sein, der diese Kultur meinen Kindern und Enkelkindern fremd macht. Ich kann die ukrainische Kultur so stärken, dass kein Parasit in Form einer anderen Kultur sie brechen, verschlingen und ihr Eigen nennen oder sie insgesamt zerstören kann. Ich kann nur das. Denn meine Waffe sind Worte und Theater. Und mit dieser Waffe werde ich mich verteidigen und schützen. Weil ich aus einem Land komme, das nicht angreift und nicht versucht, das eines anderen zu stehlen. Ich komme aus der Ukraine – wir wollen nur unsere Eigenen bewahren und schützen. Auch wenn es für uns sehr teuer wird.
P.S.: Heute hat mein Freund Geburtstag. Ja, wir feiern. Ja, während des Krieges. Und nein, wir vergessen nicht, was in unserem Land passiert. Wir sprachen über die Verstorbenen – darunter immer mehr unserer gemeinsamen Bekannten. Die Legalisierung von Waffen in der Ukraine wurde diskutiert. Wir haben fast geweint, weil diejenigen, die unser Land überhaupt aufbauen sollten und die wir persönlich kannten, an der Frontlinie sterben. Wie geht es uns jetzt ohne sie? Wie wäre es mit ihnen? Niemand kennt die Antwort.
Ich bin mit Leuten aus der Kulturbranche befreundet. Ich weiß, dass derzeit unglaublich viele Menschen an vorderster Frontlinie stehen, von Aktivisten bis hin zu Künstlern. Und wir alle erschaffen unsere Kultur – Frieden, Entwicklung, Fürsorge füreinander, Vertrauen in unsere Zukunft, Verständnis für unsere Traumata. Und die russische Kultur ist in diesem Prozess die schlimmste Plage für uns. Und genau das werden wir der ganzen Welt erklären – bis wir gewinnen.
Text: Viktoria Shvydko, Lwiw
Übersetzung: Anastasia Horyn
Anmerkung der Redaktion:
Die Redaktion hat in den Inhalt dieses Textes nicht eingegriffen. Wir haben Verständnis für die Haltung der Autorin gegenüber russischer Kultur, teilen sie jedoch nicht. Mehr dazu auf Seite 56 in unserem Juni-Heft.
Das ist kein Tagebuch – V. Teil
14.04.2022
Heute Morgen habe ich 2.000 UAH geschickt, um irgendwo im Bezirk Popasna Schaufeln zu kaufen. Die Menschen dort werden Schützengräben bauen, um zumindest etwas Schutz zu haben – weil russische Truppen sie bombardieren. Vor einer Woche sammelten sie Geld für eine Plastikfolie, um kaputte Fenster in Häusern zu schließen.
Und eine Stunde später fuhr ich mit der Straßenbahn zum Theater. Und durch das Fenster sah ich, wie Menschen in der Nähe der Blumenbeete kämpften - mit Schaufeln. Anscheinend dieselben Exemplare wie die für die Leute in Popasna. Es ist Frühling: Manche können Blumen pflanzen, und andere müssen Gräben ausheben. So eine ironische Situation.
Vielleicht ist die Theorie der Multiversen das einzige, was wirklich existiert, aber wir haben noch nicht gelernt, sie zu verstehen? Ich weiß nicht, warum mein Gehirn bei all diesen Gegensätzen und diesen parallelen Lebenswelten noch nicht explodiert ist – besonders jetzt in meinem Land.
17.04.2022
Ich bin in Polen. Ich kam, um meine Mutter zu sehen und gleichzeitig Ostern zu feiern. Das ist meine erste Reise seit der großen Invasion. Am Vortag des Krieges bin ich aus Tschechien zurückgekehrt. Und heute ist der 53. Tag des Krieges, der vor 8 Jahren begann und mehrere Jahrhunderte gedauert hat. Und jetzt bin ich in Polen.
Ich war schon oft hier. Aber jetzt ist es ein ganz besonderes Gefühl. Hier sind alle Schilder auf Ukrainisch dupliziert. Für Flüchtlinge aus der Ukraine gibt es zahlreiche Schilder und Durchsagen. Es fühlt sich an, als ob sie auf mich warten und bereit wären, es anzunehmen. Und das ist unglaublich bewegend. Ich bin so glücklich, dass Millionen ukrainischer Männer und Frauen hier Zuflucht gefunden haben.
Das einzig Seltsame ist, dass ich genau in dem Moment nach Lwiw zurückkehren wollte, als wir den ersten Kontrollpunkt in Lwiw passierten und die Stadt verließen. Wer weiß, was mit mir los ist. Könnte das genau das Gefühl sein, das man hat, wenn man sein Zuhause verlassen muss?
26.04.2022
Ich fühle mich merkwürdig. Weil ich die Definition des Zustands, in dem ich mich befinde, nicht kenne. Weil alles rundherum gut ist, so sicher wie möglich – trotz aller Raketen, die Lwiw erreicht haben. Aber permanente Müdigkeit, gedämpfte Angst, tiefe Trauer, die sich seit 68 Tagen angesammelt hat, Verlustschmerz und ein deprimierendes Gefühl der Hilflosigkeit – all das schwebt jeden Tag aufs Neue über mir.
Jede Frage „Wie geht es dir?“ ist jetzt zweifellos ein Zeichen der Liebe. Ich antworte auch mit Liebe – mir geht es gut, halte durch. Und jedes Mal wird dieser kurze Dialog immer schmerzhafter.
Alle, die nicht aus der Ukraine stammen oder die Ukraine verlassen mussten, schreiben oft darüber, wer wir sind, diejenigen, die hier geblieben sind – stark, mutig und unerbittlich. Am Anfang haben mich diese Worte inspiriert, sie von so vielen verschiedenen Menschen zu hören! Uns wird immer noch gesagt, dass wir stark und mutig seien – aber jetzt weiß ich nicht, was ich damit anfangen soll. Weil ich an diese Worte glaube, aber trotz all dem Leid, Schmerz und Verlust, den ich als meinen eigenen, persönlichen erlebe, ist es unmöglich, stark zu bleiben. Denn noch länger als sonst können mich Umarmungen zu Tränen rühren. Und ich weiß nicht, wie schnell ich in diesem Fall aufhören kann zu weinen.
03.05.2022
Heute haben wir erfahren, dass wir – das Lesia Ukrainka Theater – zum Avignon Festival eingeladen wurden! Eine unserer Aufführungen wurde für die Teilnahme an einem Sonderprogramm im Juni dieses Sommers ausgewählt. Dies ist ein unglaublich wichtiges Ereignis für uns als Team! Und heute flogen drei von sechs Raketen nach Lwiw, wodurch Kraftwerke in der Stadt zerstört wurden. So leben wir – in ständigen Kontrasten.
Ich habe einmal etwas gelesen über Theater in Kriegszeiten, aber ich hätte nie gedacht, dass ich einer von denen sein würde, die es in einer solchen Zeit schaffen würden. Das Lesya Theater ist sehr außergewöhnlich. Ich weiß, dass ich eine engagierte Person bin, aber trotz meiner Zuneigung und Liebe dazu ist es eine objektiv erstaunliche Geschichte der Transformation. Früher war es ein Theater der Roten Armee, ein berühmtes, erbärmliches Militärtheater aus der Sowjetzeit.
Und nach all dieser sowjetischen Vergangenheit ist es jetzt das Theater von Lesya Ukrainka! Allein der Name ist für dieses Theater ein Exorzismusakt. Und außerdem arbeitet hier jetzt ein bewusstes und eingespieltes Team! In den letzten zwei Monaten sind wir gemeinsman noch stärker und bewusster geworden. Dies verdanken wir unserer gemeinsamen grenzenlosen Liebe zu unserem Land und dem Mut jedes Einzelnen, sich gegen jegliche Übergriffe derselben sowjetischen Vergangenheit zu wehren. Und für mich ist es ein absolutes Wunder.
Der Flüchtlingsstrom hat abgenommen. Es gibt infrastrukturelle Möglichkeiten, ihnen Unterkünfte unterschiedlicher Art zur Verfügung zu stellen. Deshalb ist unser Tierheim leerer geworden. Aber wir haben nicht aufgehört zu helfen! Nun manövrieren wir zwischen den Aufführungen, die wir nach und nach ins Repertoire zurückführen; interne Diskussionen darüber, wie das Theater jetzt aussehen soll; sowie das Sammeln von Spenden für Lebensmittel oder Munition und die Suche nach Fahrern für humanitäre Hilfe in der gesamten Ukraine.
Das ist alles anstrengend. Aber wir alle verstehen, dass wir uns nicht für eine Sache entscheiden können – entweder Theater oder Freiwilligenarbeit. Ich befürchte, dass wir noch lange vor dieser Wahl stehen und uns nicht entscheiden können. May the force be with us!
Also, Lesya Ukrainka Theater. Es stellte sich heraus, dass wir nicht mehr als die Hälfte unserer Stücke spielen können, weil sie auf die eine oder andere Weise vom Krieg handeln und traumatische Auslöser für unsere Zuschauer sein können; andere wiederum dauern zu lange, und wenn es einen plötzlichen Luftalarm gibt, gibt es eine Reihe von Problemen – die Menschen müssen in einen Luftschutzbunker gebracht werden (der Platz für etwa 100 bietet, also dürfen nicht mehr als 70 Menschen in einer Halle sein für 300 Personen), müssen Sie wegen der Ausgangssperre in der Stadt so früh wie möglich beginnen. Und da stellt sich die Frage: im Alarmfall den Menschen Geld zurückgeben oder auf die Bühne zurückkehren, um das Stück zu vollenden.
Aber wir können es tun – wir müssen es tun. Denn es wäre äußerst unehrlich, wenn wir hier in „hinten“ im Land keine Lösung finden, während die freundlichsten und stärksten Ukrainer alles tun, um vorne zu bleiben. Wir haben einen offenen Aufruf für vertriebene Künstler gestartet.
Unterdessen probt eine unsrerer Schauspielerinnen ab heute in Senftenberg eine Rolle anstelle ihres Schauspielkollegen, der sie jetzt nicht spielen kann, weil er die Ukraine aufgrund des Kriegsrechts nicht verlassen kann. Am Ende der Woche wird es also eine weitere Premiere der Aufführung „I want life“ geben. Wir haben es während der Pandemie mit unseren Partnern, der Neuen Bühne Senftenberg und Futur 3 erstellt. Und jetzt kämpfen wir immer noch dafür, dass diese Leistung lebt. Anscheinend hat sich André als Regisseur nicht umsonst diesen Namen ausgedacht – „Ich will das Leben“.
Inzwischen hat das Theater ein Radio „Alarm“, das nur während der Luftangriffe in Lwiw auf dem Instagram-Kanal des Theaters live geht und die Sendung nach dem Alarm beendet. Während der Sendungen scherzen unsere Schauspieler viel, überbringen auf Wunsch des Publikums humorvolle Grüße, diskutieren aktuelle Themen und versuchen generell, einfach sie selbst zu sein. Diese Idee ist vor kurzem entstanden, vor zwei oder drei Wochen. Und für mich war es ein Zeichen dafür, dass meine lieben Kollegen bereit sind, als Schauspieler ans Theater zurückzukehren. Ich denke, jetzt sind wir alle bereit, zu unseren gewohnten Rollen zurückzukehren. Aber es gibt eine Nuance – jetzt haben wir eine Reihe anderer Bilder: Fahrer und Fahrerinnen, Verlader, Freiwillige in der Küche, Leute, die im Unterstand arbeiten, Transportlogistiker, Crowdfunder – und diese Liste lässt sich noch lange fortsetzen. Denn der Krieg hat uns alle verändert.
04.05.2022
Ich bin sehr froh, dass wir alle seit dem ersten Tag der großangelegten Invasion ins Theater kommen. Dies ist meine Insel der Sicherheit und des Gleichgewichts. Seit die morgendlichen Proben begonnen haben, ist es auch ein Punkt der Normalität – denn wenige Minuten vor der Probe, gegen 10:56 Uhr morgens, beginnt so ein angenehmes Treiben in den Gängen – jemand hat etwas vergessen, jemand singt etwas mit Kaffee in der Hand, jemand schreit eine Frage durch den Korridor. Kurz gesagt, vorher ist mir gar nicht aufgefallen, wie angenehm und lebendig es ist vor Beginn vor der Probe.
Am Morgen kaufte ich Kaffee und Schokolade mit einer Vorhersage, auf der stand: „Du hast keinen Weg zum Glück" – kannst du dir das vorstellen? Aber es gab noch einen anderen Satz: „Weil Glück dein Weg ist." Banale Philosophie, ich weiß. Doch diese banale Vorhersage ließ mich denken, dass es Luxus ist, über die Natur der Dinge und die Zukunft nachzudenken. Solch ein Luxus muss geschätzt und geschätzt werden, um ihn zu teilen. Bei aller Erschöpfung und Hilflosigkeit habe ich diesen Luxus noch. Ich kann meine Gedanken auf den Weg zurückbringen, wo mein Weg oder der Weg meiner Kollegen durch diesen Krieg zumindest eine Erfahrung (sicherlich kein Glück) ist, die uns verändert hat, die uns stärker macht und eine starke Bindung zwischen uns bilden wird.
Aber welcher Weg ist dieser Krieg für Menschen aus Cherson, Charkiw und Mykolajiw? Wie ist es für Menschen aus der Region Kyiw oder aus den Frontzonen? Für sie ist es ein brutaler und blutiger Weg, der eine große Wunde (und nicht nur eine seelische) bleiben wird, die sie nie verlassen wird. Auch diese Wunde werde ich nie vergessen. Keiner von uns wird es vergessen. Denn wie kann man das vergessen? Wie kann man ihnen in Zukunft helfen? Werden sie uns in Zukunft begleiten?
Kaffee mit der Vorhersage banaler Philosophie und dem Luxus der Kontemplation – das sind tatsächlich meine Amulette in diesem Krieg.
09.05.2022
Nie Wieder. Aber es ist wieder passiert – gerade jetzt: Mehr als eine Million Ukrainer wurden gewaltsam in die entlegensten Winkel Russlands deportiert; Camps in Schulen und Kantinen; Folter und Vergewaltigung von Kindern, Frauen, Männern und älteren Menschen; Hinrichtungen und Massenbestattungen in Massengräbern; Raub und Invasion, wo niemand jemanden erwartete oder brauchte.
Dies geschieht gerade jetzt – während ich diese Worte schreibe. Wieder. Im Moment sterben im Keller von Azovstal Menschen, Zivilisten und Soldaten langsam unter der Blockade der brutalsten Terroristen unserer Zeit – der russischen Armee. Wieder.
Viktoria Shvydko, Lwiw
Übersetzung: Anastasia Horyn
Das ist kein Tagebuch – IV. Teil
27.03.2022
Gestern flog eine weitere Rakete nach Lwiw. Und dieses Mal war es nicht außerhalb der Stadt, sondern in der Nähe des Flughafens. Und dann noch eine Rakete – danach zerschlugen die Fenster einer Schule .
Das ist nichts im Vergleich zu vielen Städten und Dörfern in der Ukraine, wo in solchen Fällen nur Asche zurückbleibt und Menschen sterben. Aber es entstand ein riesiger Riss in meiner persönlichen Sicherheitszone – so zerbrechlich und fast imaginär. Was muss noch passieren, damit ich meine Koffer packen und in einen der Evakuierungsbusse steige und mein Land und diese Stadt verlassen kann? Ich weiß nicht. Was ich sicher weiß, ist, dass ich selbst jetzt nirgendwo hingehen werde.
28.03.22
Gestern war Welttheatertag. Es war toll, das ganze Team auf unserer kleinen Bühne zu sehen, die vor ein paar Tagen noch ein Kleiderladen für Flüchtlinge war. Aber jetzt haben wir alles einem spezialisierten Freiwilligenzentrum übergeben und die Bühne sieht wieder aus wie eine Bühne – zumindest scheint es so. Es war ein guter Abend. Unsere Freunde kamen von anderen Theatern. Ein bisschen Wein und leichte Musik im Hintergrund, Gespräche und Witze. Ich habe einen Kuchen mit Äpfeln gebacken -–Charlotte. (Charlotte ist übrigens mein Codename in unserer Theaterzentrale). Es war ein richtig guter Abend, so normal wie vor dem Krieg. Und solche Abende, Treffen und Gespräche halten uns alle über Wasser. Denn so spürt man den Wert des Augenblicks und hält daran fest. Denn wie soll man das alles sonst durchstehen?
31.03.2022
Neben Theater unterrichte ich Kulturmanagement an einer der Universitäten in Lwiw. Letzte Woche beschloss die Universität, das Studium wieder aufzunehmen. Und das ist die richtige Entscheidung. Die Schüler müssen das Schuljahr abschließen. Sie müssen zu ihrer Routine zurückkehren – so wie wir alle. Nicht jeder hat jetzt so einen Luxus wie eine „Rückkehr zur Routine“, aber wir haben sie. Und das sollte genutzt werden.
Nur weiß ich nicht wie ich das machen soll. Ich weiß nicht, wie ich jetzt ein nützlicher Lehrer sein soll. Ich weiß nicht, wie ich mit diesen wunderbaren jungen Menschen sprechen soll, die bereits ein bestimmtes Schicksal haben – sie werden unser Land wieder aufbauen. Weil sie alle wunderbare, kluge und verantwortungsbewusste junge Menschen sind.
04.04.2022
40 Tage sind vergangen. Victor Frankl hat bekanntlich geschrieben, dass die ersten, die aufgegeben haben, diejenigen waren, die dachten, es wäre bald alles vorbei. Ungefähr in der zweiten Kriegswoche waren wir von unserer Verteidigung und der unglaublichen Mobilisierung aller Ukrainer so begeistert, dass wir scherzhaft darauf wetteten, wie bald wir gewinnen würden. Das machen wir nicht mehr – aus unterschiedlichen Gründen. Aber einer ist die Angst vor dem Aufgeben. Ich habe so große Angst vor der Erschöpfung in der Vorfreude, dass ich nicht mehr an den Sieg glauben könnte. Ich habe Angst, den Glauben daran zu verlieren, dass alles einfach enden muss oder dass es uns einfach gut gehen muss – auch nach all den Verlusten und Schrecken dieses Krieges.
Das Theater und die Menschen darin retten mich, weil wir uns gegenseitig helfen, hier und jetzt zu sein, durch einfache Aufgaben und erreichbare Ziele. Unsere tägliche Aufgabe ist zum Beispiel, Essen zu kochen und zum Bahnhof zu gehen. Es gibt immer viele Leute, die ständig warten. Außerdem haben sie schreckliche, schreckliche Erfahrungen hinter sich. Und das einzige, was wir für sie tun können, ist, sie mit heißem Essen für ein paar Minuten abzulenken, zu lächeln und „Guten Appetit“ zu sagen. Fast täglich schicken wir einen Kleinbus mit Proviant und Grundausstattung in verschiedene Städte an Hotspots. Dies sind in der Regel persönliche Anfragen durch Freunde und deren Freunde. Aber es ist wichtig. Wir können den Krieg nicht stoppen, aber wir können bestimmten Menschen helfen, die wiederum ihren Mitmenschen helfen.
Es scheint mir, dass ich mich daran gewöhne und fast keine Angst mehr habe. Ich bin an Sirenen gewöhnt (die übrigens in Lwiw immer weniger zu hören sind). Ich gewöhnte mich an den Gedanken, dass ich nachts im Badezimmer schlafen musste. Ich habe mich daran gewöhnt, in den 40 Kriegstagen die Nachrichten in allen von mir abonnierten Zeitschriften zu lesen. Ich bin es gewohnt, verschiedene Leute zu treffen, die aus dem Ausland kommen, um hier zu helfen. Ich bin es gewohnt, in mein Notizbuch die Aufgaben des Freiwilligenzentrums des Lesja-Theaters zu schreiben – anstelle der Aufgaben als Theaterprojektleiterin. Es ist sehr seltsam, diese Gewohnheit zu beobachten. Da ist mir klar, dass es nie mehr so sein wird wie vor dem Krieg. Aber diese neue "Normalität" ... ist sie normal?
Irgendwie nimmt mein Gehirn auf seltsame Weise einige der Ereignisse dieses Krieges in den Status dessen, was bereits passiert ist, und macht es zu einem Ding der Vergangenheit. Bucha, Irpin, Cherson, Mykolajiw, Mariupol, Melitopol, Kramatorsk – all diese Städte haben die schlimmsten Schrecken erlebt. Und einige durchlaufen sie noch immer – ohne Pausen aus den ersten Kriegstagen. Wie hält man alle im Kopf und im Herzen? Wie erinnert man sich und wie vergisst man nicht? Wie leben, um sich nicht vor denjenigen zu schämen, denen die Chance zum Weiterleben genommen wurde?
05.04.2022
In Lwiw gab es in den letzten Tagen keine Angriffe . Auch der Zuzug von Flüchtlingen ist leicht zurückgegangen. Darüber hinaus erließ das Kulturministerium der Region eine Anordnung, dass die Theater zu ihrer üblichen Arbeit zurückkehren sollten, das heißt Theaterstücke aufführen sollten. Es ist sehr schwer zu erklären, wie ich darüber denke. Denn was gibt es Schöneres in unserer Situation, als unseren normalen Alltag wiederzuerlangen?
Wir begannen darüber zu reden, welche Art von Theater wir sein sollten. Was kann Theater jetzt? Wie soll es sein Publikum ansprechen? Ist es überhaupt nötig, jetzt Theater zu machen? Gerade jetzt, wenn Raketen über das Land fliegen, stirbt jede Minute jemand, und die Nachrichten berichten jeden Tag von den schrecklichen Gräueltaten, die die Ukrainer ein paar hundert Kilometer von Lwiw entfernt erleiden.
Wir sprechen gerade miteinander, um zu verstehen, was wir nach außen sagen können – zu unserem Publikum. Aber eine noch schwierigere Frage – was können wir denen sagen, die nach Lwiw gekommen sind, um eine Unterkunft zu suchen?
Hat das ukrainische Theater jetzt eine Möglichkeit, mit seinem Publikum zu sprechen? Ich denke, wir müssen eine neue Sprache und neue Formen des Dialogs erfinden. Und das ist eine riesige Herausforderung.
07.04.2022
Wir fingen an, Müll im Theater zu sortieren. Das ist richtig – es gibt mehrere Behälter, und es gibt eine Vereinbarung zwischen uns, bereits saubere Gläser und Packungen zu sortieren. Und es berührt mich so sehr. Wir befinden uns im Kriegszustand. Wir sammeln täglich humanitäre Hilfe, suchen Drohnen und Munition für das Militär, beteiligen uns an diversen Crowdfundings und in der Zwischenzeit – ab jetzt sortieren wir Müll. Und diese kleine Geste spricht tatsächlich von großen Plänen. Denn wir haben eine Zukunft – daran glauben wir bedingungslos. Dafür kämpfen wir jetzt. Aber mit jeder noch so kleinen Gelegenheit müssen wir die Welt auf diese Zukunft vorbereiten.
Eine neue Richtung unserer Freiwilligenarbeit waren Fahrten ins Krankenhaus, wo unsere Soldaten aus verschiedenen Städten des Landes behandelt werden. Ich nehme nicht an diesen Reisen teil, weil mein psycho-emotionales Niveau es mir nicht erlaubt, ruhig zu bleiben und nicht bei jedem Blick in die Augen dieser Jungs und Männer zu weinen. Aber meine Kollegen sagen, dass sie dort sehr fröhlich sind. Als sich meine Kollegen verabschiedeten und fragten, welche Wünsche sie hätten, erhielten sie zwei Anfragen: die erste – öfter zu kommen, nur um zu reden (am besten eine Gitarre mitzunehmen), und die zweite – Krebse mitzubringen (so eine seltsame Anfrage, ich lachte). Wir haben Flusskrebse gefunden. Und wir haben jetzt auch eine Gitarre dabei. Ich nicht, aber meine Kollegen. Denn selbst nach dieser Geschichte weiß ich, dass ich meine Tränen nicht zurückhalten könnte, wenn ich dorthin ginge.
Wir haben eine Online-Luftalarmkarte. Graue Farbe - Informationen unbekannt (zeigt die annektierte Krim und Teile der Regionen Luhansk und Donezk an), grün – kein Luftalarm, orange – Luftalarm. Manchmal werden ausnahmslos alle Bereiche, ein Bereich nach dem anderen, orange. Das bedeutet, dass die gestartete Rakete bemerkt wurde, aber nicht genau bestimmt werden kann, wohin sie fliegt. In diesen wenigen Minuten, während die ganze Karte der Ukraine orange ist, bleibt Ihnen eigentlich nichts anderes übrig, als in Ihrem Versteck zu sitzen und irgendwo tief im Inneren zu beten – um rechtzeitig alle abgefeuerten Raketen zu neutralisieren; dass die Fragmente an einem verlassenen Ort niedergehen; damit alles, was ankommt, nicht in einem Wohnhaus landet, sondern in irgendeinem Infrastrukturgebäude ohne Menschen. Das ist das Einzige, was übrig bleibt. Aber es funktioniert nicht immer. Leider.
10.04.2022
Ich frage mich, ob das Gefühl der Empathie erschöpfend ist? Weil ich nicht weiß, wie ich all diese Trauer überleben soll? Wie kann man um alle trauern? Wie viele Kerzen müssen wir anzünden, damit alle Seelen den Weg zum Frieden finden? Wie behält man den gesunden Menschenverstand und balanciert ständig zwischen völliger Verzweiflung und Freude über jeden kleinen Sieg?
Jetzt kenne ich Chris – einen Engländer, einen Veganer, einen Dokumentarfilmer, der seit einem Monat mit kurzen Pausen in der Ukraine ist und die Geschichten von Menschen filmt, die bereit sind, sie zu teilen.
Ich kenne Agatha aus Polen, die genau wie Chris seit zwei Wochen zwischen dem Dnipro und Kyiw unterwegs ist, um mit Menschen zu sprechen und ihren Geschichten eine Stimme zu geben. Anteka ist ein Fotograf, der ein Haus in der Nähe von Warschau gekauft hat, wo er zwei riesige Hunde und vier Kinder hat. Während sie von Nachbarn versorgt werden, sucht er nach Mitteln, um Flüchtlinge nach Polen und in andere Länder zu transportieren, um sie in Sicherheit zu bringen. Ich kenne Nastya, die in Portugal geboren wurde und lebt, aber ukrainische Wurzeln hat. Sie kam als Freiwillige und Helferin in die Ukraine, weil der Krieg begann. Und sie traf zufällig Nick – einen 62-jährigen Londoner, einen Designer im Ruhestand. Jetzt kenne ich beide und sie helfen unserem Team, denen zu helfen, die es brauchen. Ich kenne Marcus aus Deutschland, der den ganzen Transporter mit Lebensmitteln für unser Theaterunterkunft gebracht hat, nur weil Nick ihn zufällig getroffen und von Nastya erfahren hat, dass wir Lebensmittel brauchen. Und ich könnte diese Liste noch lange fortführen.
Wenn es ein Film wäre, gäbe es definitiv eine Art Rhizom-Visualisierung. Oder Neurosysteme. Denn so sehe ich diese fantastischen Treffen und Interaktionen von Menschen, die sich unter anderen Umständen wahrscheinlich nie getroffen hätten. Und das ist eine der wenigen positiven Seiten dieses schrecklichen Krieges.
Ich bin so fasziniert von diesen Künstlern, die trotz all der Schmerzen und Leiden, die uns in fast jeder Nachricht verfolgen, die Kraft finden, etwas zu schaffen. Ich lese wunderbare, tiefgründige Gedichte, die gerade geschrieben werden und die mich zum Weinen bringen. Ich höre Musiktitel, die uns entweder aufmuntern oder unseren gemeinsamen Ärger ausdrücken. Ich schaue mir Videos von Solokonzerten von Musikern vor dem Hintergrund zertrümmerter Häuser und in den Notunterkünften von Charkiw oder Kyiw an. Ich warte darauf, dass auch das ukrainische Theater zu sprechen beginnt. Ich möchte es wirklich helfen zu sprechen.
11.04.2022
Heute habe ich erfahren, dass die Russen eine neue groß angelegte Fälschung geschaffen haben – das Multimedia Museum of the New Chronology (es gibt natürlich keine englische Version!). Das ist kein Witz. Auf der Website des neu geschaffenen Museums finden Sie Informationen darüber, dass Christoph Kolumbus ein russisch-osmanischer Admiral war, also Amerika von Russland entdeckt wurde. Oder dass im 14. Jahrhundert von der russisch-orthodoxen Kirche das lateinische Alphabet geschaffen wurde, auf dessen Grundlage später alle europäischen Nationen ihre eigenen Sprachen erfanden. Außerdem wurde Jesus Christus laut dem Museum auf der Krim geboren, die die Russen als ihr altes Land betrachten. Und noch einmal – das ist kein Scherz! Sie fördern nicht nur die Tatsache, dass die Ukraine von Lenin „erfunden“ wurde – nein, sie sind so weit und tief gegangen, dass es nicht mehr zu glauben ist.
Es ist also eine Frage der russischen Abbruchkultur. Dies ist eine weitere große Front von uns, die von der ukrainische Kulturgemeinschaft aufrechterhalten muss. Und nicht nur Ukrainisch! Kunst ist wichtig und Kultur ist die Grundlage eines jeden gesunden Landes. Daher ist es nicht hinnehmbar, dass das riesige internationale Theaterfestival in Avignon von Serebrennikow eröffnet wird – auch wenn er nominell ein Oppositionskünstler war. Es ist unmöglich, solche beispiellosen Diebstähle des kulturellen Erbes zuzulassen, die die russische imperiale Kultur über Jahrhunderte ermöglichten! Es hat einfach keine Daseinsberechtigung. Der einzige Weg ist, diese Kultur zu boykottieren. Und dieser Boykott muss fortgesetzt werden, bis all diese verblendeten Menschen ihre Schuld eingestehen und all ihre Verbrechen überdenken – sowohl gegen die Menschlichkeit als auch gegen die Kultur. Denn wofür kämpfen wir, wenn nicht für Wahrheit und Gerechtigkeit? Von welchen Werten können Europa und die Welt sprechen, wenn wir solche Straftaten begehen? Und das ist nicht nur eine Frage der jahrhundertelangen Unterdrückung der Ukraine und aller Dinge, die ukrainisch sind. Dies ist ein globales Problem der gesamten zivilisierten Welt. Erinnere dich daran!
Viktoria Shvydko, Lwiw
Übersetzung: Anastasia Horyn
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Das ist kein Tagebuch - III. Teil
14.03.2022
Heute haben meine Schwester und ich mal wieder im Badezimmer geschlafen. Letzte Nacht haben diese Kreaturen Raketen auf ein Friedenssicherungszentrum (Truppenübungsplatz) in der Nähe von Lwiw abgefeuert. Sie greifen normalerweise nur zivile ungeschützte Gebäude an – das ist keine Neuigkeit mehr. Während dieser Zeit bombardierten sie Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser und viele andere Orte mit verteidigungsunfähigen Menschen. Deshalb weiß ich nicht einmal, warum ich so wütend war. Wahrscheinlich, weil es zu nah ist. Und wahrscheinlich, weil sie nichts mehr als Wut verdienen.
18.03.2022
Sechs Raketen wurden heute von dem Schwarzen Meer auf mein Lwiw abgefeuert. Zwei von ihnen schlugen in der Nähe des Flughafens ein. Ich weiß nicht, warum ich immer noch nicht genug Angst habe, um wenigstens daran zu denken, hier rauszukommen. Der Selbsterhaltungstrieb scheint in die Wartephase übergegangen zu sein. Ich frage mich allerdings, welcher der Instinkte stattdessen aktiviert wurde.
19.03.2022
Viele Menschen sind in unserem Theater und es gibt ein ständiges Gefühl der Fürsorge und Liebe unter uns Kollegen. Es ist so beruhigend. Vom ersten Kriegstag an, als die meisten von uns ins Theater kamen, ohne darüber nachzudenken, warum, war alles klar. Wir bleiben – weil dies unser Zuhause ist und es für diejenigen vorbereitet werden muss, deren Zuhause gerade jetzt weggenommen und zerstört wird. Trotz des Krieges weiß ich sicher, dass ich an meinem Platz bin.
Das Theater hat sich zu einem echten Logistikzentrum mit einem Unterschlupf für Menschen und einer Reihe verschiedener Aktivitäten entwickelt. Wir sammeln Spenden, koodinieren humanitäre Hilfe, bringen Menschen unter, ernähren die Menschen am Bahnhof. Unsere Umkleidekabinen sind zu Küchen, Lagern, Schlafzimmern geworden. Unsere Schauspielerinnen und Schauspieler sind in der Notunterkunft für Migranten als Verlader, Fahrerin und Fahrer im Einsatz. Unser Verwaltungsteam koordiniert den Transport von Flüchtlingen ins Ausland und Lebensmittellieferungsprojekte nach Tschernihiw und Sumy, Kyiw und Irpin – und in viele andere Städte, die gerade jetzt (während ich dies schreibe) von russischen Barbaren mit verschiedenen Waffen beschossen werden, um unsere Städte einfach vom Erdboden zu tilgen.
Ich habe unsere übliche Theaterarbeit noch nicht vermisst. Manchmal hat einer von uns eine Idee, wie und was wir als Theatermacher tun können. Aber es bleibt nicht lange in meinem Kopf.
Deshalb bin ich so fasziniert von meinen Kollegen, die die Kraft und den Mut haben, mit Menschen zu kommunizieren, die in unser Heim kommen. Sie dokumentieren jetzt unsere Realität. Und das ist sehr wichtig! Denn das ist unsere Erinnerung. Dies ist unsere Art, nicht zu vergessen und anderen – den nächsten nach uns, nah und fern von uns – zu erzählen, wie wir uns und unsere Lieben verloren und um sie und uns gekümmert haben und wie wir es erlebt haben. Wenn wir uns ein wenig von all diesen Schrecken erholen, wird dies unsere Art sein, all unsere Verluste zu akzeptieren und zu ertragen, die Kraft zu finden, alles wieder aufzubauen, was die Russen jetzt zerstören, uns an all das zu erinnern, was sie uns gerade jetzt wegnehmen.
23.03.2022
Bei all der Hölle, die jetzt in der Ukraine passiert, helfen gute Nachrichten sehr. Natürlich verstehen viele von uns, dass sich der Informationsfluss der Ukrainer jetzt auf unsere Errungenschaften und kleinen Siege konzentriert. Natürlich erreichen uns auch schreckliche Nachrichten, die uns nicht verborgen bleiben – und das zu Recht. Aber offensichtlich werden wir nach unserem Sieg viele schreckliche Dinge erfahren – weil es ein Krieg ist, so passiert es.
Aber unter all dem gibt es auch viele ermutigende Dinge. Wie Tschornobajiwka. Natürlich wissen Sie nicht, was Tschornobajiwka ist – die Hälfte meines Landes hat vielleicht noch nie den Namen dieses Dorfes gehört. Aber Tschornobajiwka ist die ukrainische Version des Bermuda-Dreiecks für die russischen Besatzer. Ab heute haben sie neun (!!!) Mal versucht, dieses Dorf einzunehmen, in dem circa 1.000 Menschen und wurden jedes Mal besiegt.
Aber auf der anderen Seite gibt es auch schlechte Nachrichten – je dümmer der Gegner, desto grausamer und rücksichtsloser kann er sein. Russland und seine inkompetente Armee verhalten sich jetzt grausam, rücksichtslos und unmenschlich. Und wir bezahlen dafür mit dem Leben unserer unschuldigen Zivilisten.
24.03.2022
Ein Monat ist vergangen. 28 Tage. Heute ist es in Lwiw sehr sonnig und windig. Es gibt so viele Menschen in Lwiw, dass man meinen könnte, die Touristensaison in der Stadt habe gerade erst begonnen.
Verdammt, wir sind alle müde. Aber wie stark wir alle sind! Jede Frage "Wie geht es dir?" klingt wie eine starke Umarmung. Jedes Wort "Danke!" jedes Mal klingt es so wichtig, so wertvoll und bedeutungsvoll – obwohl Sie dieses Wort hunderte Male am Tag sagen und hören. Ich bewundere mein Land. Ich bewundere Menschen, die ich kenne und die ich nicht kenne, aber jetzt spüre ich sie sogar in einer Entfernung von Hunderten von Kilometern. Ich habe Vertrauen in jeden einzelnen von uns. Und es ist größer und stärker als der Glaube an irgendeine Gottheit auf der Welt.
25.03.2022
Ein Monat ist vergangen. Hunderte unschuldiger Menschen starben, darunter auch Kinder. Dutzende ukrainischer Städte werden durch kontinuierliches Bombardement in Staub und Schutt gelegt. Mehrere Kleinstädte stehen unter der Kontrolle der Besatzer. Mehrere Städte stehen unter Blockade, die weder humanitäre Hilfe noch die Evakuierung von Zivilisten zulässt. Das Rote Kreuz eröffnet ein „Flüchtlingszentrum“ in Russland (was?). Das ist eine direkte Unterstützung von Lagern für Zwangsdeportierte aus ukrainischen Städten. Die NATO ist nur bereit zu helfen, wenn Russland biologische Waffen einsetzt (was ?). Das heißt, die Hunderte von Waffen, die Tausende unschuldiger Menschen getötet haben, reichen nicht aus? Gibt es eine Grenze für die Zahl der Toten und Verletzten, die in diesem Krieg noch nicht erreicht ist?
Der westliche Teil der Ukraine nimmt weiterhin seine Flüchtlinge auf. Wir warten auf eine neue Welle, denn endlich (!) halten sich die Besatzer zumindest teilweise an die Vereinbarungen über „grüne Korridore“ in den Besatzungszonen. Die Zeit vergeht anders. Die Zeit existiert und existiert für uns jetzt gleichzeitig nicht.
Zeit spielt keine Rolle – das Leben zählt. Und wir werden für es kämpfen.
26.03.2022
Morgen ist Theatertag. Und wir werden es nicht wie üblich feiern.
Aber wir werden zusammen sein – wir werden alle Theaterleute anrufen, die sich gerade in Lemberg (Lwiw) versammelt haben, weil ihre Städte und ihre Theater bombardiert werden. Wir werden reden, uns umarmen, versuchen, ein bisschen zu scherzen, wir werden zusammen weinen. Und wir werden uns gegenseitig unterstützen und unser Bestes tun, um uns das ukrainische Theater vorzustellen, das wir nach dem Sieg schaffen werden.
Man sagt, wenn Waffen sprechen, schweigen die Musen. Aber die Zeit wird kommen, wo wir unser Wort laut sagen werden. Und jetzt tun wir einfach alles, um zu überleben.
Viktoria Shvydko, Lwiw
Übersetzung: Anastasia Horyn
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Das ist kein Tagbuch – II. Teil
Hier folgt die – durch technische Probleme verzögerte – Fortsetzung, in der sie persönlich über die ersten dreizehn Kriegstage berichtet. Bislang fanden die Kriegshandlungen entfernt von Lwiw statt. Heute, wo nun erstmals starke Angriffe auf die Stadt gemeldet werden, erreicht uns ihr Text.
08.03.2022
Heute ist der 13. Kriegstag in der Ukraine. Ich schreibe seit vielen Jahren nichts mehr außer Stipendienanträge oder Briefe an Partner oder kurze Projektbeschreibungen. Weil ich Theaterprojektmanagerin bin (früher dachte ich, ich wäre Theaterkritikerin). Und auch, weil ich mich eigentlich schäme, meine Reflexionen in der Öffentlichkeit zu schreiben (warum?). Ich schreibe nicht, obwohl ich einen Haufen alter Notizbücher habe, in denen ich viel geschrieben habe. Es war eine Art Graphomanie, aber mit therapeutischer Wirkung.
Heute ist der 8. März und ich hatte vor, auf den „Marsch der Gleichheit“ zu gehen, der seit einigen Jahren in Lwiw stattfindet. Aber er konnte nicht stattfinden, weil das Kriegsrecht verhängt wurde. Also habe ich meiner Oma auf dem Weg ins Theater einfach einen Strauß Schneeglöckchen gekauft – weil ich es kann, weil ich das Recht dazu habe, weil ich es einfach wollte. Und heute ist der 13. Tag des Krieges mit dem „Schwarm“. Ohne gefälschte Referenden, aber immer noch unter gefälschten Erklärungen der „Befreiungsoperation“ des russischen Präsidenten.
Vor 15 Tagen war ich auf einem Festival in Tschechien und am späten Abend las ich sehr
bedrohliche Nachrichten aus der Ukraine über die offizielle Erklärung vor Putins
Invasion.
Und vor 13 Tagen hat mich meine Schwester eine Stunde vor meinem Wecker mit den
Worten geweckt: „Wika, steh auf - wir haben Krieg.“ Denn vier Stunden, bevor mein Wecker klingelte, begann Russland, mein Land offen zu zerstören, indem es Charkiw beschoss.
***
Kennen Sie die fünf Stufen der Trauerakzeptanz? Also, bei mir (und nicht nur bei mir) sind sie nie eingetreten – zumindest in diesen 13 Tagen. Oder vielleicht stecken wir alle in einer
Phase der „Wut“, die sich in etwas so Mächtiges und fantastisch Effektives verwandelt hat, dass wir etwas so Schreckliches wie Krieg akzeptieren. Sowas wie neue Timelines wie in der Marvel-Serie „Loki“. Vor zwei Jahren hat uns das Corona Virus isoliert und den halben Planeten lahmgelegt. Vor etwa einem Jahr startete Elon Musk mit einer Rakete von der Erde. Und vor zwei Wochen marschierte Russland in die Ukraine ein und beschoss Städte und Zivilisten. Wie kann dies in einem so kurzen Zeitraum verarbeitet werden? Wie?
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Ich fühle mich verwirrt und ein wenig schuldig. Denn was wusste ich vom Krieg? Acht Jahre dauerte er in einer passiv-aggressiven Form in einem Teil meines Landes, der
von einem anderen Land usurpiert wurde. Dass Mariupol damals zurückerobert wurde und Donezk und Luhansk nicht – vielleicht wird Mariupol deshalb jetzt festgehalten, was
die Geschichte mit Stalingrad wiederholt? Dass auf dem Lytschakiwski-Friedhof in Lwiw vor fast genau hundert Jahren Kindersoldaten bestattet wurden? Was ist ein Buch wie Sun Tzus „The Art of War“, frage ich mich? Dass meine Urgroßmutter zwei Weltkriege überstehen musste und ich sie nie gefragt habe, wie sie das geschafft hat.
Der Krieg, der vor acht Jahren begann, blieb in sicherer Entfernung von mir. Er erreichte mich durch soziale Netzwerke, durch Freunde, die von ihm davonliefen, durch moderne ukrainische Theaterstücke, durch Artikel und Berichte, durch Links für Spenden an die Armee, durch Programme für Veteranen von Anti-Terror-Operationen. Es ist 13 Tage her, seit sich alles geändert hat und er neben mir steht.
Dabei lebe ich in Lwiw, genau wie vor acht Jahren. Seit drei Tagen gibt es keine Alarmsirenen mehr. Aber die Sache ist, ich erinnere mich nicht, welcher Tag heute ist. Ich weiß nur, dass heute der 13. Tag ist, an dem wir in einer anderen Realität leben, in der das Zeitgefühl völlig anders ist als zuvor.
Viktoria Shvydko
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09.03.2022
Phantomsirenen sind, wenn man sie hört, aber sie gar nicht ertönen. In Lwiw gab es mehrere Tage lang keine Sirenen, aber bevor ich zu Bett ging, hörte ich einen beständigen fernen Alarmton. Es ist gut, dass meine Erfahrungen mit Sirenen nicht die gleichen sind wie die von Menschen aus Hostomel, Tschernihiw, Irpin oder Mariupol. So kann mein Gehirn begreifen, dass das Phantomsirenen sind und damit umgehen. So kann ich einschlafen und ruhig schlafen. Aus irgendeinem Grund träume ich nicht einmal von Schrecken.
Ich hatte Glück. Ich musste nicht wie meine Freundin nach Polen fliehen, zwei kleine Kinder vor den Kriegserlebnissen retten und meinen geliebten Mann hier zurücklassen. Ich muss nicht stunden- oder gar tagelang im Keller sitzen, wie es Tausende von Menschen in der Ukraine in den letzten Tagen getan haben, auch mein Kollege vom Theater, der zwei
Wochen im Keller von Hostomel verbracht hat.
Ich habe Angst und weine nicht wegen der Schüsse und Explosionen auf den Straßen in
der Nähe, sondern wegen der Nachrichten und Videos über die Verwundeten und die
zerstörten Straßen der Städte, in denen ich teils war und teils nicht war – aber sie alle fühlen sich vertraut an.
Ich hatte Glück. Und ich schäme mich dafür, in meinem Pyjama zu schlafen, anstatt dauernd vollständig angezogen zu sein, um bereit zu sein. Und ich weiß nicht, was ich mit diesem Gefühl anfangen soll.
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Ich lese „Harry Potter“. Ich bin 32, aber ich lese “Harry Potter“, weil es meine mentale Insel der Sicherheit ist. Das ist eine Geschichte, die mir Hoffnung gibt. Als wir vor ein paar Monaten beim Mittagessen im Theater darüber diskutieren, was „Hoffnung“ sei, wusste ich nicht, wie ich es klar erklären sollte – weder mir selbst noch meinen wunderbaren Kollegen; es ist so gut, sich mit ihnen in der Mittagspause über alles in der Welt zu unterhalten.
Jetzt weiß ich, was es ist, aber ich kann es immer noch nicht erklären.
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10.03.2022
Gestern fragten mich meine neuen Freunde – die aus anderen Ländern kamen, um sich freiwillig zu melden und denen zu helfen, die weniger Glück hatten als ich – ob ich Angst
hätte, dass in Lwiw dasselbe passieren könnte wie in Kiew oder Tschernihiw. Und was mein Plan sei für diesen Fall.
Ich habe lange erklärt, dass ich keine Angst habe, weil ich glaube, weil ich Gründe habe, weil wir mehr Zeit hatten, uns vorzubereiten, weil es noch etwas Anderes gibt …
Plötzlich stellte sich heraus, dass ich mir dieses Szenario nie vorgestellt hatte. Weil ich es mir nicht erlauben kann, es mir vorzustellen.
Am ersten Kriegstag gegen 7 Uhr morgens sammelte ich unter Tränen einen Außenrucksack ein: so, wie es in den Listen im Internet stand. Ich habe sogar für ein paar Tage einen Koffer mit Ersatzklamotten gepackt. Natürlich sammelte ich alle Dokumente, Geld und Schmuck. Aber es schien der einzige Tag zu sein, an dem ich noch befürchtete, ich müsste hier raus.
Ich habe eine blinde und naive Hoffnung. Dass sie uns nicht erreichen werden. Dass sie es nicht wagen. Dass die Streitkräfte der Ukraine das nicht zulassen werden.
Ich will mir den Moment nicht ausmalen, in dem man einen Notfallrucksack schultert und einen Koffer mit Ersatzkleidung nimmt, um alle Dokumente und Bargeld in den Innentaschen der Jacke zu packen, um zu entkommen. Ich kann es nicht zulassen.
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Ich habe Angst wegen Tschernobyl. Ich erinnere mich, wie unerträglich schmerzhaft und beängstigend es war, Swetlana Alexejeweits Buch darüber zu lesen. Oder sehen Sie sich die TV-Serie über Tschernobyl an. Ich möchte nicht, dass es noch einmal passiert wie 1986. Kann die Welt zulassen, dass es wieder passiert?
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12.03.2022
„Heute sind wir alle Ukrainer!“ Können Sie sich vorstellen, wie kraftvoll und inspirierend das klingt? Wie wichtig war es für uns, dies in jenen ersten Tagen des völligen Chaos und der Angst zu hören? Neben der Ukraine standen viele Menschen mit einer Stimme. Neben meinem ganzen Land.
In den ersten Tagen haben mir so viele Leute geschrieben – aus der ganzen Welt. So viel Liebe, so viele Worte der Unterstützung, so viel Einsatz in verschiedenen Bereichen – von Demonstrationen bis hin zu Spenden.
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Wenn ich nicht im Theater oder in der Logistik beschäftigt bin – wie ich Matratzen bringe / mit Ausländern kommuniziere / Briefe schreibe / einen Spendenlink sende – versuche ich darüber nachzudenken, wie alles sein wird nach dem Sieg. Wie werden die Städte wiederaufgebaut und Schmiergelder und Korruptionssysteme
überwacht? Wie sich die Kulturlandschaft verändern wird und wie wir nach diesem Krieg auf neue Weise zwischen moderner Kultur und Tradition manövrieren werden. Wie ukrainische Schulen wirklich ukrainisch sein werden, nicht nominell (wenn fast alle Lehrer russischsprachig sind, wie in vielen Schulen in der Ostukraine). Wie wird die Zahl der Menschen wachsen, die Ukrainisch lernen und sprechen werden – in meinem Land und auf der ganzen Welt.
Liegt es daran, dass ich Projektmanagerin bin? Mein Gehirn ist darauf trainiert, so zu arbeiten – zu entwerfen. Es bewahrt mich sehr vor tiefer Traurigkeit.
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Sie wussten nichts über uns und wissen es nicht. Standardmäßig betrachten sie uns als minderwertig. Aber wir waren es nie und werden es nie sein. Weil wir ein Volk von hartnäckigen und ausdauernden Menschen sind. Jeder von uns hat seine eigene Meinung und es ist nicht leicht, damit zusammen zu leben. Aber wenn wir uns vereinen, ist es gefährlich, uns zu verärgern und zu beleidigen.
Denn heute haben wir keine Angst mehr – jetzt sind wir wütend. Wir haben Angst, unsere Lieben zu verlieren, aber wir zögern nicht, sie zu verteidigen. Wir werden hier stehen und nichts verschenken, was uns gehört.
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Ich habe eine neue Routine. Wir alle haben neue, denn innerhalb eines Tages wurden wir alle zu Freiwilligen. Heute habe ich im Rahmen dieser Freiwilligenarbeit Kuchen gebacken - mit Äpfeln und Pfirsichen. Es wurden drei Kuchen und ich habe sie für alle, die sich dort jetzt auch ehrenamtlich engagieren, ins Theater gebracht. Denn das ist mein Zuhause. Und ich will und werde alles dafür tun, dass mein Zuhause mein Zuhause bleibt.
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13.03.22
Heute Nacht haben meine Schwester und ich wegen der Sirenen mehrere Stunden im Badezimmer auf dem Boden geschlafen. Es stellte sich heraus, dass sie Raketen auf die Deponie in Jaworiw abfeuerten. Diese Stadt ist 64 km von Lwiw entfernt. Das Gebiet der Europäischen Union beginnt 27 km von Jaworiw entfernt. Sie haben es trotzdem gewagt, hier einzudringen.
Viktoria Shvydko, Lwiw
Übersetzung: Anastasia Horyn
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Das ist kein Tagbuch – I. Teil
Die ukrainische Theatermacherin Viktoria Shvydko, Co-Leiterin des Teatr Lesi in Lviv (Lemberg), im Westen des Landes, über die aktuelle Situation ihres Theaters. Im vergangenen Jahr entstand in einer Koproduktion ihres Hauses mit dem Kölner Kollektiv futur 3 und der Neuen Bühne Senftenberg das Kinderstück „Als der Krieg nach Rondo kam“. Sie betont, wie wichtig gerade im Krieg die internationale Unterstützung ist.
Generell geht es mir gut hier in Lwiw, abgesehen von den schrecklichen Nachrichten. Und ich bin begeistert von unserer Armee. Ja, ich hätte nie geglaubt, dass ich das eines Tages sagen würde: Ich bin begeistert von unserer Armee! Die nächsten Nächte werden sicherlich hart, aber wir glauben, dass alles gut wird.
Unsere Koproduktion „Als der Krieg nach Rondo kam” (mit der Neuen Bühne Senftenberg und dem Futur3 Theaterkollektiv Köln) im letzten Jahr war unglaublich spannend. Der Krieg findet bei uns seit acht Jahren statt und mit ihm zu leben, ist nahezu zur Routine geworden. Aber diese Produktion hat uns ermöglicht, mit diesem permanenten Trauma anders umzugehen. Besonders die Auseinandersetzung mit den Kindern im Publikum hat uns wirklich erstaunt. Die Kinder hier sind so schlau, sie haben schon viel über den Krieg nachgedacht, obwohl der Krieg im Osten des Lands tobte und nicht hier im Westen. „Ihr müsst so und so kämpfen” oder „wir müssen besser verhandeln”. Das ist unsere erste Produktion für Kinder und ich hätte mir keine bessere Produktion für sie vorstellen können.
Nach acht Jahren des Lebens mit diesem Trauma sind wir brutal aufgeweckt worden. Dieser neue, verdammte Krieg kam wirklich unerwartet. Und jetzt sind wir alle zu freiwilligen Helfer:innen geworden. Wir tun jetzt alles, um diesen Krieg zu gewinnen. Unser Theater, das Teatr Lesi, steht als Bombenbunker für alle Menschen zur Verfügung, die keinen Schutz finden können. Wir sind im Theater zusammengekommen, um irgendetwas gemeinsam zu können, weinend und lachend. Wir haben den Keller als Schutzraum mit allem hergerichtet für den Fall eines Angriffs. Tja, das ist nicht das, was wir als Künstler:innen normaler Weise tun – zu überlegen, wie man in Kellern lebt und überlebt, aber man lässt uns keine Wahl. Für uns ist es wichtig, hoffnungsvoll zu sein. Und das Zusammensein im Theater fühlt sich gerade richtiger an als je zuvor.
Was kann ich Euch noch anderes sagen? Ich bin wirklich dankbar. Ich erhalte viele Nachrichten von meinen Freund:innen und Kolleg:innen aus dem Ausland mit unterstützenden Worten. Jede Demonstration ist wichtig. Sie hilft. Es ist so wunderschön zu sehen, wie viele Menschen überall auf die Straße gehen. Hört nicht damit auf! Das verbindet uns über alle Grenzen hinweg noch stärker. Es ist verrückt: Wir erhalten so viel und so schnell konkrete Unterstützung von Menschen weltweit, während ihre Regierungen unfassbar langsam und defensiv agieren.
Ich hätte mir nie vorstellen können, dass das alles über uns hereinbricht. Aber, lasst uns glauben, dass wir eines Tages wieder frei sein werden, uns begegnen und gemeinsam Kunst machen werden.
Let's stop this fucking war!
Viktoria Shvydko
Wir danken André Erlen für die Vermittlung und Übersetzung des Textes.
Die nächsten Aufführungen von „Als der Krieg nach Rondo kam“ finden ab 5. März in Senftenberg statt.
Derzeit wird in den Zeitungen viel spekuliert über schlotternde Theaterleiter und leere Häuser. Allerdings haben fast alle Theater derzeit Sommerpause. Und dass die alternativ laufenden Festivals starken Publikumszuspruch haben, wird in den Artikeln dann auch zähneknirschend eingeräumt. Insgesamt scheinen mir diese aktuellen Untergangsszenarien in den Feuilletons also eher durch das – von allen Redaktionen gefürchtete – Sommerloch begründet zu sein. Auffällig ist schon, wie mancher Artikel sich beim Vorangegangenen bedient, anstatt sich selbst auf die Recherche zu begeben. Zu schnell sollte man die deutsche Theaterlandschaft jedenfalls nicht abschreiben.
Heute allerdings können wir mit der neuen Ausgabe der Werkstatistik mit Zahlen ein wenig zur Aufhellung, ja Aufklärung der Situation beitragen. Denn soeben ist die vom Bühnenverein herausgegebene und von unserer Redaktion erstellte Werkstatistik „Wer spielte was?“ für die Spielzeit 2020/21 erschienen. Hier sind alle professionellen Inszenierungen mit Aufführungs- und Zuschauerzahlen erfasst. Und die Zahlen, vor allem die Zuschauerzahlen, sind schon bedrückend und machen die massiven Auswirkungen der Pandemie aufs Theater deutlich. Verglichen mit der Saison 2018/19, der letzten Spielzeit vor Corona sind die Publikumszahlen um fast 90 Prozent zurückgegangen. Wohlgemerkt, in einer Saison mit massiven Theaterschließungen, radikalen Sitzplatzbeschränkungen sowie hohem Krankenstand in den Ensembles.
Spannend wird es sein, wie die Theater im Herbst unter hoffentlich günstigeren medizinischen Rahmenbedingungen spielen können. Wie sie die Zuschauer ansprechen können. Wir in der Redaktion sind der Meinung, dass die Theater verstärkt auf das Publikum eingehen sollten; erkunden, was gewünscht ist, aber auch ausprobieren, was für Aufsehen sorgen könnte in der jeweiligen Stadt. Dazu dann mehr in unserem Septemberheft. Fundiert über Theater werden wir aber nur sprechen und schreiben können, wenn wir denn wirklich hingehen, Aufführungen ansehen, mit Theaterleuten und mit Publikum sprechen.
Zunächst wird im August-Heft mit dem Schwerpunkt zur Saisonbilanz 2021/22 erscheinen. Hier möchte ich aber noch auf unser Juli-Heft verweisen, in dem wir einige Aspekte, die sich aus den Zahlen der Werkstatistik ergeben, aufgearbeitet haben, etwa die Rolle digitalen Theaters nach zwei Jahren Pandemie.
2020 veröffentlichte das Ratinger CD-Label Ars Produktion „Nu gey – ikh bleyb“, eywunderbare yiddische Lieder von Mordechai Gebirtig (1877-1942) mit der israelischen Mezzosopranistin Dalia Schaechter und dem Opernregisseur Christian von Götz an der Gitarre. Die Sängerin damals: „Mir gefällt sein roher Gitarrenton bei den Liedern sehr. Er spielt sie nicht wie irgendein Gitarrist, sondern wie ein Regisseur, der von der Gitarre aus inszeniert“.
Im Juni 2021 folgte die von von Götz kompilierte und arrangierte zauberhafte Operette „Mazeltov, Rachel’e“ an der Kölner Oper, die er auch selbst inszenierte. Daraus gibt es nun auf CD, wieder von Ars Produktion, die von verschiedenen Darstellerinnen und Darstellern gesungenen und von unterschiedlichen Musikern begleiteten Lieder jüdischer Musiker der 1910er Jahre, die am Yiddish Broadway wirkten. Nach den Pogromen in Odessa 1881 waren sie nach New York geflohen. Im Zentrum steht erneut die seit vielen Jahren im Kölner Ensemble engagierte Dalia Schaechter, neben solistischen Streichern, Klarinette, Akkordeon und Jazzgeige auch wieder von Christian van Götz an der Gitarre begleitet.
Schaechter spielt und singt die israelische Sängerin Lea, die mitten in einer Lebenskrise Besuch von ihren Ahnen bekommt, als da sind die kapriziöse Ururgroßmutter, genannt „das Rachel’e“, einst im Odessa der 1860er Jahre eine gefeierte Opernsängerin (dargestellt und gesungen von Dalia Schaechter selbst), ihr Mann, der Geiger Leyser Janowski (Tenor Dustin Drosdziok), beider Tochter Gisse, Leas Urgrossmutter, mit 70 Jahren in Auschwitz ermordet (die Sopranistin Csilla Csövari) und der berühmte Theaterimpresario in Odessa namens Goldfaden (Bassbariton Matthias Hoffmann), der sich als Leas tatsächlicher Ururgroßvater entpuppt. Am Ende hat Lea Frieden mit der Vergangenheit geschlossen und stirbt im Reinen mit sich.
Anfangs fehlen dem, der die Aufführung gesehen hat, der szenischen Zusammenhang, die verbindende Handlung und die Dialoge dazwischen, auch der Szenenapplaus. Doch beim zweiten Hören entwickelt die Musik von Louis Friedsel, Louis Gilrod, Joseph Tanzman, David Meyerowitz und vielen anderen ein herrliches Eigenleben. Selbst für das Jiddisch braucht man keine Übersetzung mehr. Sie ist im sorgfältig gestalteten Booklet neben dem Originaltext in die knappe Inhaltsangabe des inhaltlichen Zusammenhangs eingearbeitet. Und je länger man zuhört, desto offensichtlicher werden die Bezüge zwischen der Operette eines Leo Fall und traditioneller jiddischer Musik. Und auch die Kontraste treten wunderbar klar hervor, denn neben Ausgelassenem und erotisch Anspielungsreichem steht tief Melancholisches wie das abschließende, vom ganzen Ensemble gesungene Wiegenlied.
Wie fein und plastisch die Arrangements von Christian von Götz, der die Originaltexte der Handlung seiner Operette angepasst hat, und Ralf Soiron sind, hört man nicht zuletzt, wenn Dalia Schaechter als Lea, die so oft Wagner gesungen hat, Isoldes Liebestod auf Jiddisch anstimmt: zart, zerbrechlich und sinnlich gesungen; von ein paar Musikern und am Ende einer einsamen Klezmer-Klarinette ebenso begleitet.
Die CD „Mazeltov, Rachel’e“ ist Anfang Juni bei Ars Produktion (ARS 38 614) erschienen, wird über Note 1 vertrieben und kann zum Preis von 19,45 € HIER oder im Tonträger-Handel erworben werden.
Ihre Welten sind immer schmutzig, verdorben, verkommen – und trotzdem von abgründiger, schwer zu fassender Schönheit. Da ist nie ein Glaube an das Gute, eher an das Ende und, vielleicht, an die Kraft der Natur als Ur-Erlebnis, mahnend erhobener Zeigefinger und schönste und wichtigste aller Gefahren. So war es in Helene Hegemanns Anfängen, bei ihrem Debüt-Theaterstück „Ariel 15“ (2007, da war sie 15) und in ihrem Debüt-Roman „Axolotl Roadkill“ (2010), in „Musik“ nach Wedekind, 2013 von ihr inszeniert an der Kölner Oper und auch in den Theaterversionen ihres Romans „Bungalow“ in Düsseldorf (2019) und Hannover (2022).
Jetzt ist ein neuer Prosaband erschienen. „Schlachtensee“ versammelt 15 Prosa-Texte, von drei bis knapp 60 Seiten Länge und wird sich wahrscheinlich nicht auf der Theaterbühne wiederfinden, obwohl die dramaturgische Zurichtung, die nie penetrant daherkommende dramaturgische Verklammerung der Texte Theaternähe atmet.
In „Bungalow“ waren Hegemanns Einblicke, Erfahrungen, Erkenntnisse und Betrachtungen in all ihrer Fülle konzentriert auf eine Wohnung in einer Siedlung, „Schlachtensee“ erforscht die Welt dagegen im topographischen Sinne. Wir sind im 72. Stock in New York und in kleinen Holzhäusern in Kanada, in der österreichischen Provinz, im ägyptischen Upper-Class-Hotel oder in einem schmutzigen russischen Fluss. Alle diese meist jungen Menschen sind furchtbar lebenshungrig und verloren, Idyllen gibt es nur für kurze Zeit, wirkliche Familien gar nicht, nur Verlassene, die verzweifelt versuchen, eine zu sein oder zu werden. Und, wie immer bei Hegemann, dominieren Sex, Drugs and Rock’n Roll, suchen die jungen Menschen die große Ablenkung im möglichst überlebensgroßen Genuss.
Das Interessante: Die Existenz dieser Menschen mit den merkwürdigen Namen wie Ketti oder Tschlix (die sind vermutlich sogar identisch), Jacoby und Abdellatif, Minute und Indigo, beschränkt sich nie auf einen einzigen Text. Ihr Lebenshunger scheint den Rahmen der einen Erzählung zu sprengen, die Autorin zu zwingen, sie wiederauftauchen zu lassen. Manchmal haben sie sich dann aus dem Elend herausgearbeitet, beispielsweise als Kunstsachverständiger mit internationalem Renomee, manchmal bricht aber auch die Fassade zusammen wie bei der Werbeikone, die es im heimatlichen Österreich einfach nicht schafft, an der richtigen Station aus dem Zug zu steigen.
Alle Texte bieten große Bilder, aus denen man sich eigene Geschichten bauen kann, sehen unsere Welt im internationalen Maßstab klar, aber pessimistisch verzerrt und verlieren sich immer wieder mal in der Schilderung der, gerne gleichgeschlechtlichen, körperlichen Begierde als Schutzschild gegen die Verlorenheit. Hier liegen Glanz und Elend der Künstlerin Helene Hegemann eng nebeneinander: Sie verfügt wie wenige Autor:innen heute über eine eigene plastische und sinnliche Sprache, die auch noch unforciert jung daherkommen kann und mit der Fähigkeit gesegnet ist, im treffsicheren, fies-abgründigen Witz zu kulminieren. Aber all das ist offensichtlich dabei, zur Masche zu gerinnen. Helene Hegemann ist in diesem Jahr 30 geworden, hält sich aber mit der Gestaltung ihre Weltsicht und ihrer Sprache an der Adoleszenz fest, will die wilden Jahre, mit denen sie ihre, euphemistisch gesprochen, wohl nicht vollkommen glückliche Jugend verarbeitet, offensichtlich zumindest literarisch so lange verlängern, wie es irgend geht. Und das führt zu wenigen, abgestandenen Momenten, gerade dann, wenn sie sich, vielleicht gar nicht mit Absicht, kleine, hochgebildete, meistens cool herausgeschnodderte Sentenzen gestattet, die ihre Figuren für Momente wirken lassen wie aus der Zeit gefallene Beatniks.
Spannend wird es da, wo Elend gestaltet wird, das ganz selten ökonomisch bedingt ist, denn alle Figuren können etwas wirklich gut, beispielsweise Online-Poker oder sie haben oder finden, immer jemanden, der bezahlt. Wenn diese vom Aufgehobensein träumenden Märchenbilder, die sich ja auch durch Hegemanns Schriften ziehen, auf große, den Leser wirklich anfassende, weil nicht selten überraschende Bedrohungen treffen, ist die Autorin genauso bei sich, wie bei der durch leichthändige Verzerrung kenntlichen Schilderung des internationalen Wirtschaftslebens. So ist „Schlachtensee“ auch ein Bekenntnis zur Internationalität oder besser: zur Verkommen- und Verlorenheit der kompletten, zu oft so genannten „zivilisierten Welt“. Diesem Blick zu folgen, lohnt sich sehr, obwohl der Wunsch nach ein ganz klein wenig erzählerischer Abgeklärtheit im Lauf der Lektüre nicht kleiner wird.
Helene Hegemann: „Schlachtensee“ umfasst 15 „Stories“ auf 264 Seiten und ist am 9. Juni bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Es ist unter der ISBN 978-3-462-00168-6 als gebundenes Buch (für 23 €) oder als E-Book (für 19,99 €) im Buch- und Online-versandhandel erhältlich. Eine kostenfreie Leseprobe gibt es HIER.
Eine Erinnerung: Anfang der 80er-Jahre sah ich im Hamburger Thalia Theater „Becket oder die Ehre Gottes“ von Jean Anouilh mit Peter Striebeck und Uwe Friedrichsen in den Hauptrollen und einem vielköpfigen Ensemble. Es war ein Theater, wie es das heute kaum noch gibt (und das vielleicht auch heute niemand mehr unbedingt sehen will): Alles lebte vom Handwerk, davon, dass der durchaus komplexe Text in allen Nuancen verständlich und nachvollziehbar wurde. Das wurde erreicht durch genau disponierte Kleinigkeiten – Tonfälle, Bewegungen, Körperhaltungen… Der Regisseur dieses virtuosen Theaterabends war Dieter Wedel, der in der Intendanz von Peter Striebeck Hausregisseur am Thalia, aber eigentlich Fernsehregisseur war.
Was man seiner Theaterarbeit durchaus anmerkte. Wedel schuf eine Atmosphäre und löste die Szenen in dieser auf wie Kameraeinstellungen. 1967 kam der – vermutlich – 1939 in Frankfurt am Main geborene Wedel zum NDR, wurde Assistent von Fernsehspielchef Egon Monk und bald darauf Hausregisseur des Senders. Einige seiner hier entstandenen Fernsehspiele sind echte Kostbarkeiten, etwa „Einmal im Leben – die Geschichte eines Eigenheims“ (1972) oder „Wer den Schaden hat…“ (1981). Dieter Wedel erzählte diese Alltagsgeschichten um den Hausbau oder den Kampf um Schadensregulierung gegen die Windmühlen eines Versicherungskonzerns sehr genau, mit viel Witz und hochkarätiger Besetzung. Diese zeichnete auch die Fernseh-Mehrteiler aus, die ihn zu einer bundesweiten Berühmtheit machten wie „Der große Bellheim“ und „Der Schattenmann“ – der Witz aber ging hier verloren, vielleicht, weil die Stoffe zu groß waren und die Sender die gut gemeinte Systemkritik zur Primetime nicht mit Mitteln der Satire äußern wollten.
2002 begann Wedel dann eine Intendantenkarriere, zwölf Jahre lang bei den Nibelungen-Festspielen in Worms, ab 2015 dann bei den Bad Hersfelder Festspielen. In Worms engagierte er viel Prominenz, von Karin Beier bis Gil Mehmert, und verzichtete zwei Jahre lang auf den Nibelungenstoff zugunsten des Schicksals von Joseph Süß Oppenheimer, der bekanntlich von den Nazis durch den Schandfilm „Jud Süß“ verunglimpft worden war. In Bad Hersfeld kümmerte sich Wedel nicht nur um prominente Besetzungen und eine neue Bestuhlung, sondern erschloss auch den Stiftspark neu als „Foyer im Grünen“ und riskierte mehrere Stückentwicklungen. An beiden Stätten war der Erfolg, vor allem beim Publikum, groß.
Anfang 2018 holte Dieter Wedel die noch recht frisch entbrannte MeToo-Debatte ein. Bereits in den Jahren davor gab es immer wieder kleinere Skandale um den Erfolgsregisseur, die sich um, teilweise von ihm eingeräumte, Plagiatsvorwürfe in seinen Drehbüchern drehten, vor allem aber um sein oft cholerisches Verhalten im Umfeld der Dreharbeiten. Nun erhoben gleich mehrere Schauspielerinnen Vorwürfe über sexuelle Übergriffe, die der Regisseur zumindest nicht vollständig ausräumen konnte. Er trat von seiner Intendanz zurück und erlitt später einen Herzinfarkt. Ein Verfahren am Landgericht München war bis zu seinem Tod anhängig.
Am 13. Juli ist der vor allem handwerklich herausragende Theater- und Fernsehregisseur Dieter Wedel in Hamburg gestorben.
Hans-Thies Lehmann ist tot. Der wohl wichtigste Theaterwissenschaftler seiner Generation verstarb am Samstag, den 16. Juli 2022 nach langer, schwerer Krankheit in Athen. Er wurde 77 Jahre alt. Sein Buch „Das postdramatische Theater“ (1999) gilt nicht zu Unrecht als erster internationaler Bestseller der Theaterwissenschaft. Seit bald 25 Jahren hat es die Debatte über zeitgenössisches Theater maßgeblich beeinflusst.
Doch Lehmann war nicht nur Zeuge, Wegbegleiter und Interpret dieser Entwicklung, sondern einer seiner wesentlichen Ermöglicher, um nicht zu sagen „Treiber“: Zusammen mit Andrzej Wirth hat er in den frühen 1980er Jahren den Studiengang für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig Universität Gießen aufgebaut. René Pollesch und Hans-Werner Kroesinger gehörten zu seinen ersten Studierenden. Ab den 1990er Jahren sind dort auch die bis heute prägenden Theater-Kollektive der freien Szene entstanden, unter anderem Rimini Protokoll, She She Pop, Gob Squad und Showcase Beat Le Mot. Oder wie andcompany&Co. in Frankfurt am Main, wo Lehmann den Studiengang Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Goethe-Universität mitbegründete. Die Bezeichnung „Frankfurter Schule der Theaterwissenschaft“ setzte sich nicht durch, obwohl der Begriff keine unzutreffende Umschreibung liefert. Trotz profunder Kenntnisse der Französischen Theorie (Lacan, Derrida, Foucault, Deleuze & Guattari) blieb Lehmann immer ein guter, das heißt untreuer Schüler der Kritischen Theorie. Seine Habilitationsschrift „Theater und Mythos“ (1992) verdankt der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer & Adorno wesentliche Einsichten. 1968 studierte Lehmann am renommierten Szondi-Institut in West-Berlin und wusste aus eigener Anschauung von den Szenen dieser folgenreichen Wiederveröffentlichung zu berichten: Studenten standen Schlange, rauften sich um Raubkopien, die sie sich förmlich aus den Händen rissen. Den beiden älteren Herren aus Frankfurt war diese reißende Nachfrage eher unheimlich…
Im Vorwort zu „Theater und Mythos“ (das für ihn selbst nicht mehr als ein Vorwort zu einem viel ausgedehnteren Werk über Mythos und Literatur sein sollte) blitzt kurz jenes Wort auf, das ihn ein paar Jahre später in der Theaterwelt berühmt machen sollte: Fragte er sich doch damals schon, ob das „prädramatische Theater der Antike“ nicht sehr viel mit den „postdramatischen Theaterformen“ der Gegenwart zu tun habe. Nach seiner Emeritierung im Jahre 2010 widmete er sich dann dem voluminösen Mittelglied seiner Drama-Trilogie: „Tragödie und dramatisches Theater“ (2013). Doch ging es ihm bei dieser lebenslangen Beschäftigung mit dem Drama nicht allein darum, der Theaterwissenschaft als eigenständiger, von der Philologie unbeeinträchtigten Zweig der Geisteswissenschaft ein solides Fundament zu verschaffen, sondern er lieferte auch der Praxis eine regelrechte Waffe an die Hand (ganz im Sinne von Althussers „theoretischer Praxis“). Noch vor 20 Jahren hatte ein Satz wie „Es gibt Theater ohne Drama!“ den Beiklang von Hammerschlägen an Kirchenportalen. Dass sich so ein Satz heute so leicht abnicken lässt, ist nicht zuletzt sein Verdienst.
Neben seinen Dramen-Studien galt Lehmanns lebenslanges Interesse den Texten von Bertolt Brecht und Heiner Müller. Zusammen mit Genia Schulz hat Lehmann am ersten umfassenden Werk zu Heiner Müller gearbeitet. Im Jahr 2003 folgte das Heiner Müller Handbuch, das er zusammen mit Patrick Primavesi im Metzler-Verlag herausgegeben hat. Zahlreiche Essays zu Brecht, Müller, aber auch zu Artaud, Bataille oder Themen wie das „Welttheater der Scham“ folgten, versammelt etwa in „Das Politische Schreiben“ (2002) oder dem Band „Brecht lesen“ (2016). Zusammen mit Helmut Lethen hatte er schon früh einen Band zu Brechts Lyrik herausgegeben („Bertolt Brechts Hauspostille“), deren genaue, oft auch verspielte Lektüre (Titel wie „Brecht das Schweigen!“) sich wohltuend von der simplifizierten Lesart der Brecht-Dogmatik sowohl ost- wie westdeutscher Provenienz abhob. Aufsehenerregend und durchaus kontrovers waren seine Beiträge zum „Anderen Brecht“ im Brecht Yearbook (1992). Wie kaum ein Wissenschaftler seiner Generation hat Lehmann sich Heiner Müllers Satz zu eigen gemacht: „Brecht zu gebrauchen ohne ihn zu kritisieren ist Verrat.“ Essays wie „Fabel-Haft“ haben auf theoretisch versierter Weise Müllers Aufforderung entsprochen und damit einen Blick auf ein nicht nur postdramatisches, sondern ebenso post-episches Theater geöffnet: ein Theater nach Brecht – nicht nur nachfolgend, sondern eben auch im Sinne von „entsprechend“.
Dabei hat Lehmann, wie sein Lehrer Peter Szondi, eine „Ethik der Lektüre“ praktiziert, der oft genug eine „kollektive Lektüre“ zugrunde lag, zu denen nicht nur seine Vorlesungen, sondern auf unverwechselbare Weise auch seine Texte einluden: szenisch auf eine minimalistische, aber umso konsequentere Art und Weise. Dass eine solche Ethik auch politische Relevanz besitzt, war eine der wichtigsten Lektionen, die man von ihm lernen konnte. Vehement hat Hans-Thies Lehmann im Sinne Walter Benjamins gegen eine „Ästhetisierung der Politik“, für eine „Politisierung der Kunst“ plädiert – ein Impuls, der heute so wichtig, wenn nicht sogar wichtiger ist als je zuvor. Nicht nur aus diesem Grund wird er fehlen.
Wir danken der Akademie der Künste Berlin, der Hans-Thies Lehmann seit 2017 angehörte, für die freundliche Überlassung des Porträtfotos.
Theater im Kino? Oper vielleicht, aus der MET, aus Paris oder London, vielleicht auch Ballett, aber Schauspiel? Wer schaut sich sowas wohl an? Und überhaupt: Das gibt es doch gar nicht!
Gibt es wohl. Seit einigen Jahren existiert eine schöne, zarte Pflanze, die im Verborgenen blüht, hierzulande kaum beworben – und doch nicht mit leeren Sälen geschlagen. National Theatre Live heißt die Reihe, präsentiert neue Inszenierungen des National Theatre in London und mittlerweile, weil es eben ganz gut läuft, mit der Unterbezeichnung „Encore“, auch eine kleine Reihe von bis zu 15 Jahren alten Produktionen. Vor einigen Wochen kam ich in Köln in den Genuss von Danny Boyles „Frankenstein“-Produktion aus dem Jahr 2011, bei der sich – im Theater – Jonny Lee Miller und Benedict Cumberbatch mit den Hauptrollen abwechselten. In der Aufzeichnung fürs Kino ist Cumberbatch als Monster zu erleben und macht schon die ersten 10 Minuten, in denen er sich sprachlos müht, den aufrechten Gang zu erlernen, zu einem kleinen künstlerischen Ereignis.
Boyle erzählt, durchaus mit eigenen Akzenten, einfach Mary Shelleys Geschichte, hat ein tolles Ensemble dafür und findet fantasievolle, opulente und großformatige Bilder, die sich aber nie als Dekoration vor die Geschichte stellen. Durch das intensive, direkte Spiel und die unaufdringlichen Konzentration auf das Hauptthema (mit der Frage nach dem richtigen Umgang mit Natur und Wissenschaft sind wir ja nicht wirklich 200 Jahre weit entfernt) schießen einem die aktuellen Diskurse wie von selbst ins Hirn und müssen nicht explizit auf der Bühne verhandelt werden. Dem wachen Publikum reicht die Widerspiegelung konträrer Positionen in der Haltung der Figuren. Das könnte manchmal vielleicht doch etwas tiefer greifen, etwas kantiger sein, aber es ist ein großes, sinnliches Vergnügen und ein kleines Bündel an Denkanstößen.
National Theatre Live ist immer abgefilmtes Theater. Und die Kameraleute und Bildregisseure versuchen manchmal ein wenig zu sehr, genau das vergessen zu machen. Aber für Freunde heutiger Schauspielkunst lohnt sich die Reihe eindeutig. Sie ist in Deutschland bisher nur in einer Handvoll Kinos zu erleben, aber die Frequenz steigt eindeutig. In der zweiten Julihälfte etwa gibt es Shakespeare („Henry V“ mit Kit Harrington, 14.7.) und „Prima Facie“ von Suzie Miller (21.7.), unter anderem in den Cineplex-Kinos in Köln und Mannheim, in Halle (Saale) läuft Pinters „No Man’s land“ mit Patrick Stewart und Ian McKellen und in Neufahrn bei Freising gibt es (auch im Cineplex Kino, am 24.7.) „The Book of Dust“ nach Philip Pullman, wo auf der Bühne spektakulär eine apokalyptische Parallelwelt bespielt wird.
Informationen zu dem Programm der Reihe und Vorstellungen in deutschen Kinos, sowie eine umfangreiche Trailer-Show gibt es HIER.
Es könnte Spaß machen.
Bei den 25. Baden-Württembergischen Theatertagen in Heilbronn wird nach der Zukunft gefragt – und doch in einer mediokren Gegenwart verharrt
Wo sich Romeo und Julia im Laufe der langen Theatergeschichte sicherlich noch nie gefunden und verloren haben, dürfte eine Schwimmbadruine gewesen sein. Umso mehr überrascht diese gigantische Kulisse in Elias Perrigs Inszenierung am Theater Heilbronn, die – wegen eines Coronafalls im Team der geplanten Uraufführung von „Hawaii“ – die 25. Baden-Württembergischen Theatertage eröffnete. Während sich die beiden hoffnungslos Verliebten in Shakespeares Tragödie über den Zwist ihrer Familien hinweg annähern und dabei zugleich auf den allzu bekannten Abgrund zusteuern, erweist sich das Bühnenbild zunehmend als durchaus tragende Idee. Assoziationen zum tödlichen Sprung vom 3-Meter-Brett ins wasserlose Becken bis hin zum Spiegelbild des heruntergekommenen Bads für einen verlorenen Gemeinsinn in der Gesellschaft kommen auf. Was der architektonische Aufbau leistet, wird indessen nur begrenzt durch das Spiel eingelöst. Abseits einiger die Stimmung aufmotzender Sounds und hipper Kostüme, die die Protagonisten als Punks anmuten lassen, vermag die Regie kaum zündende Bilder zu entwickeln.
Und leider ist diese Inszenierung des Branchentreffs in gewisser Weise paradigmatisch für einige weitere Darbietungen des Festivals. Denn insgesamt herrscht der Eindruck des Mediokren. Dabei hätte man sich von manchen Stückentwicklungen viel erhofft. So etwa von der immersiven Performance „Remote Heilbronn“ von Rimini Protokoll / Stefan Kaegi. Entgegen der Vorannahme, man würde bei dem (mittels Kopfhöreransagen geführten) Gang durch die Stadt mehr über die Stadt erfahren, konfrontiert uns die Stimme im Ohr mit plakativer Kapitalismuskritik in der Mall oder lässt uns – recht oberflächlich – über das Verhältnis von Individuum und Masse nachdenken. Auf dem Weg trifft man weder auf Schauspieler:innen noch auf sonst Überraschendes. Beinah ungenutzt bleibt die erzeugte Gruppendynamik, nur unzureichend wird man dazu angehalten, die eigenen Positionen und Haltungen als Teil einer sozialen Ordnung zu überdenken. Schade!
Gewiss dürfte die Ambition gewesen sein, uns genauer über das nachzudenken zu lassen, was in Zeiten nach Krieg und Corona ein neuer Kitt für Gemeinschaft sein könnte. Denn diese Überlegung hätte unmittelbar zum Motto des Festivals „Weitblick“ gepasst. Sei es Gianina Cărbunarius auf die Bühne gebrachtes Werk „Waste!“ vom Schauspiel Stuttgart, das Müll- und Umweltverschmutzung zum Thema hat, oder die Dystopie einer Gesundheitsdiktatur, Juli Zehs „Corpus Delicti“, das zu den Eigenproduktionen des Theaters Heilbronn zählt – die mithin kluge Kuratierung setzt mit dieser Ausgabe voll und ganz auf zukunftsgerichtete, teils visionäre Dramen. Eigentlich bietet genau ein solcher Zuschnitt das ersehnte Therapeutikum für eine zerrissene Gesellschaft.
Szene aus "Was man von hier aus sehen kann" (Württembergisches Landesbühne Esslingen), Foto: Patrick Pfeiffer
Aber Anspruch und Realität können eben auch auseinanderklaffen, vor allem dann, wenn die Stückkomposition zu wenig hergibt. Im Falle der Inszenierung von Mariana Lekys Roman „Was man von hier aus sehen kann“ durch Jan Müller an der Landesbühne Esslingen wiegt die Miesere gleich doppelt schwer. Sowohl die Bühnenfassung als auch die Regieumsetzung gleichen einem Desaster. In zähen zweieinhalb Stunden nehmen die Zuschauer:innen teil an verschiedenen Verluststationen der heranwachsenden Luise. Zuerst stirbt ihr bester Freund, dann geht der Vater auf Weltreise, schließlich stirbt ihre Großmutter Selma, bevor sich beinahe noch ihre beste Freundin das Leben nehmen will. Dazwischen trifft sie noch auf ihre große Liebe, einen buddhistischen Mönch, und beobachtet das Verhalten all jener Mitmenschen, die schauspielerisch nicht nur fad, teils laienhaft verkörpert werden, sondern die als Figuren allesamt charakterlich unprofiliert wirken. Damit man der Inszenierung ihre völlige Rat- und Ideenlosigkeit nicht anmerkt, kippt der Regisseur die Chose mit Popsongs und banalen Slapstickeinlagen zu. Der Bauernstadl lässt grüßen. Für Unterhaltung wird gesorgt. Aber was einen dieser Abend, der an sich schon phrasenhafte Text und dessen Realisierung sagen sollen – man weiß es nicht.
Wirkt hier noch der Corona-Blues nach? Zumindest beschwören bei der Eröffnung noch die Politiker:innen die Macht und Bedeutung, die Unverzichtbarkeit und gar demokratiestabilisierende Funktion des Theaters, das sichtbar wieder oder noch auf der Suche nach sich selbst ist. Zur Ironie der Geschichte gehört übrigens, dass weder die Staatssekretärin Petra Olschowski noch der Oberbürgermeister von Heilbronn, Harry Mergel, nach ihren Reden der Aufführung von „Romeo und Julia“ beigewohnt haben. Wenn es bei diesem Festival um Zukunft gehen soll, dann wird diese offenbar erst in der nachfolgenden Generation von Politiker:innen richtig in den Blick genommen.
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