Foto: Pascal Herington in "Der Prozess" an den Landesbühnen Sachsen © Pawel Sosnowski/Landesbühnen Sachsen
Text:Roberto Becker, am 10. Oktober 2021
Dass Gottfried von Einems Oper „Der Besuch der alten Dame“ Anfang der Siebzigerjahre ein Erfolg werden würde, war eigentlich klar. Die literarische Vorlage von Friedrich Dürrenmatt, samt ihrer Verfilmungen, ist mehr als nur eine Opernstarthilfe. Dass er Literaturoper „kann“ hatte der Komponist schon 1953 mit seiner Kafka-Oper „Der Prozeß“ bewiesen. Hinzu kommt, dass das, was die Salzburger Festspiele zur Uraufführung dafür aufboten, Legende ist: Karl Böhm als Dirigent der Wiener Philharmoniker, Oscar Fritz Schuh als Regisseur, Caspar Neher als Ausstatter und Max Lorenz in der Rolle des Josef K.
Minimalistischere Musik
Von seinem ursprünglichen Vorhaben, sich an Schönbergs Zwölfton-Technik zu orientieren, rückte von Einem wieder ab. Er setzte bewusst eher auf Publikumsnähe als auf dogmatische Neutönerei. Gerade im ersten Teil – wenn das, was sich über dem Kopf von Josef K. zusammenbraut, kaum mehr aufblitzt, sondern schon zum manifesten Grundrauschen seiner Existenz geworden zu sein scheint – erinnert das Crescendo an die spätere Minimal Music.
In Radebeul erklang nun das erste Mal eine neue, auf 33 Musiker reduzierte Orchesterfassung, die Tobias Leppert für den hiesigen Graben arrangiert hat. Zur ganzen Wahrheit gehört, dass auch die Hygienevorschriften zur Pandemiebekämpfung Pate standen – also ein Fall von „Halb zog sie ihn, halb sank er hin“. Der Vorteil ist, dass dieses Arrangement ab jetzt für Häuser und Orchester ähnlicher Größe eine Steilvorlage ist, sich dieser, in ihrem Charakter sowieso eher kammermusikalischen Oper anzunehmen.
Einengende Räume und Bedeutungsoffenheit
In Radebeul ist Dirigent Hans-Peter Preu mit der Elbland Philharmonie Sachsen und Sebastian Ritschel als Regisseur und Ausstatter der Einstieg in diese neue Fassung beispielhaft gelungen. Ein Gesamtkunstwerk aus hochästhetischer szenischer Umsetzung und hohem musikalischem und vokalem Niveau.
Um den neun Bildern, die das Libretto von Boris Blacher und Heinz von Cramer vorgeben, einen adäquat beklemmenden Rahmen zu geben, hat Ritschel mit drei Wänden auf der Drehbühne drei Räume geschaffen. Zwei Türen erlauben den Wechsel zwischen Joseph K.s Zimmer, der Bank (beziehungsweise deren Tresorraum mit unzähligen Schließfächern) und einer dunklen Straße mit lauter leuchtenden Laternen. Hier ist kein Ausweg, nirgends. Auch wenn über den zwei Türen am linken und am rechten Rand des Bühnenportals EXIT steht – auf der rechten Seite spiegelverkehrt. Wenn sich die Türen öffnen und dort allerlei Absonderliches geschieht oder gesagt wird, sind es Einblicke in die Enge einer Besenkammer.
Und das Absonderliche eskaliert von Bild zu Bild. Erst sind es nur die drei immer zusammen sich in kunstvoller Choreografie von Gabriel Pitoni durchs Bild schlängelnden Herren in Anzügen, die wie die Tapete in Josefs Zimmer gemustert sind. Dann lugt mal jemand durchs Türblatt. Oder die Porträts über Josefs Sofa beginnen ein Eigenleben und verabschieden sich vom wiedererkennbaren Abbild in das Wunderland der Surrealisten. Es gehört zu den darstellerischen Vorzügen des mit charakteristischer vokaler Vielfalt die Partie ausschöpfenden, nahezu dauerpräsenten und äußerst flexibel gestaltenden Tenors Pascal Herington, dass er die Darstellung von Josefs Ängsten und dessen Verunsicherung nicht überzieht. So bleibt für das Publikum der Spielraum gewahrt, sowohl darüber nachzudenken, ob denn eventuell an einer irgendwie gearteten Schuld des Protagonisten etwas dran sein könnte, was zu Zeiten der Uraufführung wohl in der Luft lag. Oder ob es – viel nahe liegender in Zeiten von sich endlos dahinschleppenden und das Land ausbremsenden Verfahren aller Art – die undurchschaubaren Umstände sind, die diese Geschichte im Visier hat.
Sinnlichkeit und Schauwert
Die Vorteile dieser Inszenierung sind die sinnliche Qualität und der Schauwert, in die alles verpackt wurde. Josef K. als Mittelpunkt ist und bleibt als einziger ganz in Weiß, wie eine personifizierte Unschuldsvermutung. Die Assoziation, die Michael König in der Doppelrolle sowohl als Untersuchungsrichter (im Homeoffice auf dem Bildschirm) als auch als Prügler (live im SM-Foltererlook) hervorruft, darf man als Absicht werten. Den Kanzleidirektor (Jonas Atwood) als Gottvater (auch im Homeoffice in der Höhe des Bildschirms) auch. Für den Auftritt des Prominentenmalers Titorelli (Aljaz Vesel) oder des Geistlichen (Johannes Schwarz) am Ende wird ebenso wenig an der Kostümopulenz gespart wie beim Travestie-Auftritt der drei Jungen Männer. Der Schrecken einer immer undurchschaubarer werdenden Welt kalkuliert ästhetische Verführungskraft jedenfalls ein. Das ist hier nicht anders als draußen vor der Tür.
Wenn sich der Vorhang schließt, dann sitzt Josef K. wieder allein auf seinem Sofa. Vielleicht haben ihn die finsteren, eben kafkaesk agierenden Mächte ja doch nicht kleingekriegt? Wer weiß das schon. Das Premierenpublikum wusste jedenfalls, warum am Ende Jubel angesagt war. Die Pfiffe der vielen Jugendlichen waren eindeutig Zustimmung.