Foto: Ensembleszene im Nationaltheater München © Wilfried Hösl
Text:Vesna Mlakar, am 3. April 2016
Von hinten katapultieren sich zwei Frauen nach vorn. Das offene Haar verwirbelt. So expressiv als hätte Emil Nolde sie in ein sich verdunkelndes Bild gepinselt. Wäre da nicht dieser sanfte, bausch-typische Nachklang langer, sommerluftiger Kleider (Kostüme: Marion Cito). Am 3. April hat das Bayerische Staatsballett seine letzten Ballettfestwochen unter der Direktion von Ivan Liška mit einem Mammutprojekt eröffnet: Als erste große Fremdkompanie haben sie – in einer Probenlaufzeit von intensiven eineinhalb Jahren – ein Tanztheaterstück der Choreografen-Ikone Pina Bausch einstudiert.
Joana de Andrade, die die mal kindlich-quirlige, mal schlafwandlerische Partie der zierlichen Bausch-Tänzerin Ditta Miranda Jasjfi übernommen hat, beweist durch den Wechsel in ihrem Outfit und der Wiederholung ihres Anfangssolos, wie das äußere Erscheinungsbild einen inneren Bewegungsmonolog im Auge des Betrachters verwandeln kann. Gemeinsam mit Séverine Ferrolier, Daria Sukhorukova, Alexa Tuzil und Zuzanna Zahradniková bürstet sie nicht nur ihre Frisur mit einem Besen, sondern das bisherige Tanzerfahrungsrepertoire gegen den Strich.
Peter Pabst, der schon die Uraufführung des 2002 zu Gänze in Wuppertal kreierten Stücks ausgestattet hat, verortet die spannungsbogenfreie Nummernabfolge vorlagengetreu (ganz im Sinn der gesamten Einstudierung) in einer weißen Wohnhalle mit verschiebbaren Wänden (z. B. um den mäandernden Fokus einer dahinwankenden Angetrunkenen visuell auszugestalten), hohen Schiebetüren und breitem Fenster. Es ist ein warmer, schlichter Raum für Pina Bauschs späte Beziehungs-Poesie der Ecken und Kanten. Ein bunter Mix aus verhuscht-fernen bis zu laut-krächzigen Musikstücken fungiert dabei als zweite atmosphärische Ebene zur Choreografie.
Die halbminütige Umarmung als Liebe auf Probe (mit Blick auf die Uhr und Option auf eine Minute am Folgetag) haben darin markante Persönlichkeiten wie Lutz Förster oder Nazareth Panaderos kreiert. Nun schlüpften Matteo Dilaghi (zusätzlich als Geschichtenerzähler gefordert) und Marta Navarrete Villalba (ihre Sprüche provozierten die meisten Lacher) in deren Parts – mit der nicht immer evidenten Aufgabe, diese wie eigene Rollen zu übernehmen und dabei nicht bloß zu kopieren.
Hochgewachsen und sprechgewandt tastete Dilaghi sich trotz seiner jungen Jahre recht nah an seinen Mentor und dessen besondere, selbst in Kleinigkeiten unverwechselbar-präsente Aura heran. Für dessen von Pina Bausch hinzuchoreografiertes Solo – ein (im Wortsinn) vermessendes Bewegungsspiel der Finger, Hände und Arme am stillstehenden Körper entlang – erntete er sogar einen seltenen Zwischenapplaus.
Wie leicht die Welt aus der Balance gerät, demonstrieren zwei Männer. Sie hocken auf einem Tisch nebeneinander, als einer plötzlich von der Kante seitlich mit dem Kopf nach unten kippt. Seine Rettung ist, dass der Kollege fix in time seinen Knöchel packt. Damit beginnt das große, gemeinsam mit der Pina Bausch Foundation und dem Tanztheater Wuppertal gewagte Spiel. Aber ist der Coup gelungen?
Die Schlussapplaus-Stimmung im Saal macht sofort klar: einhellige Begeisterung! Auf der Bühne jedoch scheint die zurückliegende Tour de Force alle noch fest im Griff zu haben. Das Erbe Pina Bauschs 1:1 zu bewahren und zugleich als Repertoireexperiment auf stilfremde Interpreten zu übertragen, war hier vorderstes Ziel. Nun gilt es abzuwarten, wie der Funke, den das Einstudierungsteam mit Herzblut erarbeitet hat, weiter überspringt.
Knapp drei Stunden dauert Münchens choreografische Neuerwerbung: Ein hart erarbeiteter Brocken leicht beschwingter, rauschhaft-gutlauniger aber auch slapsticklastiger Tanztheaterkunst. Beim ersten Mal mag es da an einigen Stelle schon an der Spannung hapern. Ob bei der über weite Passagen hinweg bewegungsfrenetischen Szenencollage aber Sandburgbauen als Überleitung in die Pause genügen? Das sollte freilich kein Grund sein, den zweiten Teil zu schwänzen.
Auch hier können die 15 Staatsballettler der Premierenbesetzung vor allem in dynamischen Gruppensequenzen überzeugen. Und die gipfeln zuletzt in einer turbulenten Kurzsoli-Abfolge eines furiosen Männerquintetts. Angesetzt wird mit einem Rutscher, weiter geht’s runter auf’s Knie. Mit den Armen schwingt man groß durch den Raum und dreht sich dann mit halbwaagrecht gelegtem Body – die Brust stumm-jauchzend zur Decke hinaufgedrückt.
Kniffliges zwischen Glück und Verzweiflung für einen starken, insgesamt neunköpfigen Boy-Cast, aus dem in solistischen Einlagen Jonah Cook (u.a. als Songimitator), Léonard Engel, Nicholas Losada, Shawn Throop, Nicola Strada oder Matej Urban herausragen. Mehr an souveräner Ausstrahlung braucht noch Urbans skurriler, von einem Kollegen über die Bühne gepusteter Tüllwolkenauftritt (mit Gießkanne als Regenmacher). Mädchen, die sich mit Hilfe von Seilen wie Steine in Richtung des anderen Geschlechts schießen, ein zusätzliches Quäntchen ausgelassenen Schmiss. Emotionen nämlich dürfen – je nach Persönlichkeit getanzt und/oder gesprochen – bei Bausch authentisch-menschlich aus der Figur knallen. Wenn’s dann am schönsten ist, dreht man das Licht ab!